Als wäre es Liebe
auffallend schmal für so einen großen Mann, und sie habe sich gefragt, wie solch zarte Hände einen Menschen töten könnten. Zum Schluss sagt er, sie solle Friedrich grüßen von der Sekretärin, die offenbar Pfarrer Schmidt für den Mörder gehalten hat. Sie sagt: Sie werde es ihm ausrichten.
Bestimmt würde sich Schmidt darüber amüsieren, dass die Sekretärin ihn für den Mörder hielt. Ausgerechnet ihn, den Pfarrer. Aber auch er war nicht als Pfarrer auf die Welt gekommen, so wenig wie Friedrich als Mörder auf die Welt gekommen war. Der Pfarrer hatte Friedrich mal als seinen Bruder bezeichnet. Beide waren im selben Jahr geboren, am Ende trug auch Schmidt einen Rauschebart. Partnerlook, nannte er das. Sie saßen sich oft in der Zelle gegenüber, Friedrich und er, und hielten einander die Hände. Auch auf die Gefahr hin, wie Schmidt amüsiert sagte, dass die Wärter sie für ein Pärchen hielten. Dass er sich Friedrich so verbunden fühlte, lag mit Sicherheit auch an seiner eigenen Geschichte. Er hatte ihr mal erzählt, dass er auf dem besten Weg gewesen war, eine kriminelle Karriere zu machen. Als Kind hatte er Kartoffeln gestohlen, weil sie zu Hause nichts zu essen hatten. Später wurde er Anführer einer Jugendbande, die in Häuser einbrach. Er war der stärkste unter den Jungs und ging keiner Prügelei aus dem Weg. Wäre damals einer der Jungs nach einem Schlag blöd gefallen, hätte er ihn an der falschen Stelle getroffen, dann hätte auch er ein Leben auf dem Gewissen gehabt. Aber er hatte das Glück, dass er in der Schule von Gandhi gehört hatte. Und dann von einem Briefwechsel mit Tolstoi erfuhr, in dem sie sich auf die Bergpredigt bezogen. Und er so zur Bibel kam und in der Bergpredigt von der Liebe zum Feind las. Und am Ende aus dem Jungen ein Pfarrer wurde. Friedrich hatte dieses Glück nicht gehabt.
Sie hat sich manches Mal gefragt, was gewesen wäre, wenn er nicht als Kind gewalttätiger Eltern auf die Welt gekommen wäre, wenn er nicht unter der Treppe seine einzige Liebe erfahren, wenn er als Kind nicht die betrunkenen Landarbeiter beobachtet, wenn er nicht so eine große Sehnsucht nach Nähe gehabt hätte, wenn die Frauen ihm einfach in die Augen geschaut hätten oder ihm in dem Moment, als er die Halswürgezange anlegte, der Ekel gekommen wäre, der Ekel vor sich selbst.
Er hatte immer den Wunsch nach Wärme und Zuneigung, in steigendem Maße, als er zum Manne heranwuchs. Erfüllung dieser Sehnsüchte fand er nie, so sponn er sich in phantastische Wunschträume ein. Er wurde unsicher anderen Menschen und besonders Mädchen gegenüber, seine Wissensarmut belastete ihn, er hatte Angst vor einer Unterhaltung, weil er wusste, dass er kein Wissen für einen Gesprächsstoff besaß. So schloss er sich ab, sponn sich ein, wurde ichbezogen, leicht verstimmbar, unstetig, gefühlsarm und gefühlsunempfindlich; seine psychische Persönlichkeit wurde ausgeprägt abnorm. Er sehnte sich nach Kontakt mit anderen Menschen, brachte aber den Willen zur ernsthaften Kontaktsuche nie auf. Die Initiative überließ er stets dem Partner, brach aber mit fast mimosenhafter Empfindlichkeit den Kontakt nach der geringfügigsten Störung wieder ab. Zu Frauen war er schüchtern, höflich und hilfsbereit, eine Folge seiner inneren Unsicherheit. Innerhalb der sexuellen Sphäre – und in diesem Bereich erfüllte sich der größte Teil seines Denkens – existierte das andere Geschlecht für ihn nur in der käuflichen Liebe und der gewaltsamen Besitznahme. Dieser Weg zur Frau – so paradox es klingen mag – war für ihn der Weg des geringsten Widerstandes. Eine Frau mit Gewalt zu nehmen erschien ihm »bequemer«, als die Hingabe einer Frau zu erringen, was, so empfand er, immer die Möglichkeit einer Zurückweisung und der Demütigung in sich schließt.
Obwohl sie verreist ist, hat sie die Schlafzimmertür zugemacht. Das war schon damals so, als sie noch bei uns lebte, ich bekam meine Mutter nur selten zu Gesicht, und wenn, dann nur im Vorbeigehen. Sie kam in die Küche, öffnete den Kühlschrank, machte sich ein Brot und verschwand mit dem Teller in der Hand wieder im Schlafzimmer. Oder sie ging ins Bad, manchmal hörte ich kurz darauf die Spülung, manchmal schloss sie sich für längere Zeit ein. Ich erinnere mich, dass ich klopfte und sie nicht reagierte und ich nicht aufhörte zu klopfen, weil ich es nicht mehr aushielt, und sie irgendwann rief: »Ist besetzt.« Ich machte mir in die Hosen und lief den Rest
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