Als wäre es Liebe
lebten ihre Erinnerungen nicht viel mehr davon, dass mit ihm kein Leben möglich war? Und lebte nicht auch er von Illusionen? Am ersten Abend, auf der Rückfahrt, war er noch eingeschlafen, seine rechte Hand klammerte sich am Griff über der Tür fest, sein Kopf lag ihm auf der Schulter, seine Augen hatte er geschlossen. Vor der letzten Biegung wachte er auf, im Sommer konnte man die Festung sehen, und es kam ihr vor, als würde sie ihm eine Erleichterung anmerken. Zurück in seine vier Mauern. Ins Diesseits. Das Schweigen auf den letzten Metern kam erst bei den späteren Ausführungen. Niemand hatte ihn auf ein Leben jenseits dieser Mauern vorbereitet. Und letztlich war es dann auch der Grund, weshalb sie ihn nicht entließen. Ihm fehlte eine positive Prognose. Erst am Ende bekam er eine Therapie, zwanzig Stunden, bei der ein Vollzugsbeamter mit im Raum saß. Aber da war es schon zu spät. Es gibt ein Buch über Frauen, die Mörder lieben. Und in dem Buch steht ein Satz, an den sie oft denken muss, der Satz eines Psychologen über eine dieser Frauen, die vielleicht versuche, »die Vergangenheit zu überarbeiten und endlich ihren unnahbaren Vater zu besiegen, indem sie mit einem Mann, der hinter Gittern sitzt, eine sichere Beziehung pflegt«.
Sie glaubt, ihn im Rückspiegel zu sehen, sein erstauntes Gesicht, er hält den Kopf leicht schräg, wie damals, als er zum ersten Mal diese Stimme gehört und sich bestimmt gefragt hatte, wo sie herkam. »In vierhundert Metern links abbiegen.« Sie tat, als hörte sie nichts. Sie folgte der Stimme und bog ab. Sie hätte ein Spiel daraus machen können. Wo versteckt sich die Frau? Im Handschuhfach? Kalt. Im Ablagefach in der Tür. Kalt. Unterm Sitz. Noch kälter. Auch nicht im Kofferraum oder hinter der Sonnenschutzblende. Die Stimme kam auch nicht aus dem Radio, sie kam aus dem kleinen Gerät mit dem Bildschirm. Er hatte sie ausgemacht, sie sah, wie er das Navigationsgerät mit seinem Blick fixierte. »Stell dich gut mit ihr«, dachte sie, »die weiß, wo es langgeht, die hat einen direkten Kontakt nach oben.« Oben, bestimmt hätte Friedrich als Erstes an Gott gedacht, was wusste er schon von Satelliten? Wahrscheinlich hätte er jemanden gebraucht, der ihm den richtigen Weg zeigt, eine Stimme, eine innere Stimme, vielleicht die einer Frau.
Er hatte vor Gericht gesagt, es gebe zwei Friedrichs. Der eine wolle das Gute, der andere das Böse. Und dass er sich hin- und hergezogen fühle. Auch sie hatte manchmal die Momente, wenn er wie abwesend wirkte und nicht zuhörte, in denen sie sich vorstellte, wie der eine Friedrich, der das Böse wollte, an ihm zog, und sie ertappte sich dabei, wie sie darauf wartete, ob dieser Friedrich sich zeigte, in seinen Augen oder seinem Gesicht. Im Auto sah sie seine Hände, die sich am Vordersitz festhielten, obwohl sie sehr langsam fuhr. Nicht nur seine Hände, alles an ihm war zu groß für das Auto, er musste sogar seinen Kopf einziehen, um nicht an die Decke zu stoßen. Er sah die ganze Zeit über aus dem Fenster. Der Pfarrer fragte, ob er das Radio anschalten dürfte, und dann hörten sie, wie schön es ist, auf der Welt zu sein. Und sie konnte nicht anders, sie versuchte, ihn im Rückspiegel zu beobachten, ob ihn diese helle, so unschuldige Kinderstimme von Anita Hegerland zu einer Regung verführte. Aber er blickte weiterhin aus dem Fenster, und hinterher ärgerte sie sich, dass sie ihn beobachtet hatte, und sie ärgerte sich über dieses Lied und suchte einen anderen Sender. Sie fragte sich, wie seine Augen aussahen, wenn der böse Friedrich die Kontrolle übernahm. Sie hat diese Augen nie gesehen. Waren sie starr? Leer? Kalt? Gibt es den Mörderblick? Verlieren die Augen ihre Wärme, wenn der Wahn von ihnen Besitz nimmt? Ist es nicht ein Rausch, ein Nebel, der Moment des Tötens findet doch nie in klarem Bewusstsein statt. Dafür ist der Körper vom Adrenalin beherrscht, von der Angst, der Macht, der Erregung. Er hat vorher Pornos geschaut. Sie haben ein Elixir d’Egypte bei ihm gefunden, einen Liebescocktail, zur »Anregung der Geschlechtslust«.
Sie hat sich mehr als einmal vorgestellt, ihm das Warum entgegenzuschleudern. Sie sah sich aufspringen, die Arme auf den Tisch gestützt, und schreien: »Warum? Warum? Warum?« Ihr war danach, ihn zu provozieren, ihn zu quälen, nicht wie die es machten, im Keller, bei Trockenbrot und abgestandenem Wasser, sondern mit der einen Frage. Sie hörte eine Stimme, eine zarte, leise, liebliche
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