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Als wäre es Liebe

Als wäre es Liebe

Titel: Als wäre es Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicol Ljubic
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Stimme, ganz nah an seinem Ohr, so nah, dass sie ihn kitzelte, wie ein Härchen auf seinem Trommelfell, sie flüsterte: »Warum. Warum? Warum?« Sie begleitete ihn überallhin, in den Hof, in seine Zeile, ins Bett, in den Schlaf. Sie ließ ihn nicht mehr los. Aber »Warum?« war letztlich die Frage an sich selbst.
    Wie sehr sie sich im Auto an diese Stimme gewöhnt hat. Sie kann sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal auf eine Karte geschaut hat. Einundsechzig Kilometer sind es von Maulbronn nach Heidelberg. Die Stimme schickt sie den Weg zurück nach Bruchsaal, dann weiter auf der A 5 nach Heidelberg.

Es klingelt an der Tür. Ich schaue auf die Uhr, es ist kurz nach eins. Wer klingelt um diese Zeit? Vielleicht ein Päckchen, aber wer schickt meiner Mutter ein Päckchen? Ist es meine Mutter? Ist sie zurück und hat ihren Schlüssel vergessen? Ich überlege kurz, ob ich die Zeitungsartikel in die Reihenfolge bringen soll, in der ich sie vorgefunden habe. Es klingelt ein zweites Mal. Wer außer meiner Mutter weiß schon, dass ich hier sein könnte? Aber wieso sollte sie nach einem Tag schon zurück sein, sie hatte doch eine Reise angekündigt? Welche Klingel war es überhaupt? Die an der Wohnungstür oder die am Hauseingang? Ich gehe leise in den Flur und bleibe hinter der Tür stehen. Da steht jemand, durch den Spion sehe ich Umrisse. Wer auch immer dort steht, scheint gewohnt zu sein, dass nicht gleich geöffnet wird. Es klingelt ein drittes Mal. Ich fasse an die Klinke und ziehe die Tür etwas zögerlich auf. Im Hausflur steht eine ältere Frau, komischerweise fällt mir als Erstes ihre Perlenkette auf, die bis zum Bauch hängt. Es ist offensichtlich, dass sie sich fragt, wer ich bin. Sie sieht sogar kurz auf das Klingelschild, als könnte sie sich im Stockwerk vertan haben. Sie scheint auf eine Erklärung zu warten. »Meine Mutter ist nicht zu Hause«, sage ich, »sie ist für ein paar Tage weggefahren.«
    »Sie sind ihr Sohn?« Ihr Blick ist skeptisch. »Ich wusste nicht, dass sie einen Sohn hat. Sie hat nie von einem Sohn gesprochen«, sagt sie.
    Ich frage mich, wie ich dieser Frau, wenn es ernst wäre, beweisen könnte, dass ich der Sohn meiner Mutter bin. Ich könnte in die Wohnung laufen und ein Foto holen, das uns beide zeigt, wenn es denn eines gäbe. Ich könnte ihr meinen Personalausweis zeigen, auf dem allerdings ein anderer Name steht als an der Klingel, der Name meines Vaters. Ich könnte ihr sagen, dass sie, wenn sie mich richtig betrachte, Ähnlichkeiten finde, die vollen Lippen, die schlanke Nase und die Augen, die gleichen braunen Augen. Sehen Sie die etwa nicht?
    »Bleiben Sie länger?«, fragt sie.
    »Ich weiß noch nicht«, sage ich.
    »Ich wollte Sie auch nicht stören, ich habe nur gerade festgestellt, dass ich keine Eier im Hause habe, und ich wollte nicht extra noch mal raus. Haben Sie vielleicht welche?«
    Im Umdrehen merke ich, wie sie über meine Schulter in die Wohnung hineinlugt. Ich bringe ihr die letzten Eier.
    Vielleicht ist es die Nachbarin, über die sich meine Mutter geärgert hat. »Rein hypothetisch«, hat sie gesagt, »stellen Sie sich vor, in eine der Wohnungen im Haus zieht ein Mann ein, der mal vor langer, langer Zeit getötet hat, ein alter, gebrechlicher Mann, der seine Strafe abgesessen hat und frei ist.«
    Noch während sie sprach, hat die Nachbarin den Kopf geschüttelt und gesagt: »Eine furchtbare Vorstellung! Ich wäre nicht mehr sicher im eigenen Haus, ich könnte nachts kein Auge mehr zumachen.« – »Aber er ist ein alter Mann!«, sagte meine Mutter, und die Nachbarin sagte: »Wer einmal tötet, kann wieder töten. Auch als alter Mann.« Meine Mutter hatte von einem fremden Mörder gesprochen, bewusst nicht von ihm und erst recht nicht davon, dass er in ihre Wohnung ziehen könnte.
    Ich frage mich, wie sie ihn vorgestellt hätte: Das ist Friedrich. Die Bestie aus dem Schwarzwald. Verurteilt wegen vierfachen Mordes. Kein anderer war so lange weggesperrt wie er. Aber auch er hat das Recht auf eine zweite Chance. Deswegen wohnt er jetzt hier, bei mir. Er kann gut mit Tieren. Und er liebt die Natur. Ach ja, und auch mit Kindern kann er gut. Im Gegensatz zu mir.
    Sie hätte auch sagen können, er sei im Kloster gewesen, hätte Läuterung gesucht für eine kleine Sünde, die er als junger Mann begangen habe. Neunundvierzig Jahre habe er in der Abgeschiedenheit verbracht. Wie ein Eremit. Hinter Klostermauern. Fern allem Weiblichen. Vielleicht hätte dann jeder

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