Als wäre es Liebe
als wunderte er sich über eine solche Frage. »Bitte«, sagte sie, »erzähle es mir.«
Und er sagte: »Oben im Himmel«, und zeigte mit dem Finger hoch und folgte dem Finger und schaute hoch, als hätte man sie sehen können, die Kabinen, von denen er zu sprechen begann. Sie musste daran denken, dass die einzigen Kabinen, die er kannte, jene aus den Sexläden waren, in denen die Filme liefen, die ihn in Erregung versetzten.
»Dort oben, vor dem Tor«, sagte er, »also nicht im Himmel, sondern vor dem Himmel. Im Vorhimmel also. Und in den Kabinen laufen zwei Filme. Erst der eine, dann der andere.«
»Was sind das für Filme«, fragte sie, »sind das schöne Filme?«
»Der zweite Film ist schön, der erste nicht. Der erste Film zeigt dein Leben.«
»Und das ist kein schöner Film?«
»Nein.«
»Und der andere?«
»Der andere Film zeigt dein Leben, wie es hätte sein können. Und dann schlägt man sich gegen die Stirn. Blöd ist man. Man schlägt sich gegen die Stirn, weil man sich ärgert. Ja, man ist blöd.«
»Wer hat dir das erzählt?«, fragte sie.
»Der Pfarrer«, sagte er.
Sie saßen auf dem Deck des Ausflugsbootes, eine Reihe von Holzbänken stand dort, er saß ganz außen, hatte einen Arm auf die Reling gelegt, die so frisch gestrichen aussah, dass sie dachte, wenn er seinen Unterarm höbe, wäre er weiß von der Farbe. Und es ist nicht leicht, Farbe wieder wegzubekommen.
Es ist fünf oder sechs Jahre her, als mein Vater den Notarzt rief. Ich hatte mir Sorgen gemacht. Ich hatte meine Mutter angerufen, sie hatte abgenommen, aber nichts gesagt, ich hörte nur schweres Atmen, dann legte sie auf, und als ich noch mal anrief, ging sie nicht mehr ans Telefon. Eine ganze Stunde lang konnte ich sie nicht erreichen und war dann zu ihrer Wohnung gefahren. Aber auch nach mehrmaligem Klingeln hatte sie nicht geöffnet. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Und rief meinen Vater an, weil ich wusste, dass er sich – trotz allem, was war – immer noch um sie sorgte. Er sagte, er riefe den Notarzt. Legte auf, und kurz darauf klingelte mein Handy wieder. Ihm war eingefallen, dass er nicht mal wusste, wo meine Mutter lebte. Er fragte nach der Adresse, und zwanzig Minuten später hörte ich die Sirene. Dann sah ich den Notarztwagen. Er hielt vor dem Haus, zwei Ärzte stiegen aus, hatten ihre Notfallkoffer dabei, die Feuerwehr kam dazu. »Haben Sie uns gerufen?«, fragte mich einer der Männer. Und ich sagte, dass es mein Vater gewesen sei. »Dann sind Sie der Sohn?«, fragte er. Ich nickte. Nachdem meine Mutter nicht öffnete, klingelten sie bei einer Nachbarin, und dann lief ich voraus in den dritten Stock und zeigte auf die Wohnungstür meiner Mutter. Sie klingelten noch mal, klopften und riefen. Aber als sie immer noch nicht öffnete, verschafften sich die Feuerwehrmänner gewaltsam Zugang. Die Ärzte gingen voran, und ich sah, wie sie sich im Wohnzimmer umsahen, weitergingen, einen Blick in die Küche warfen und dann die Schlafzimmertür öffneten, die geschlossen war, und im Türrahmen stehen blieben. Ich stand zu dem Zeitpunkt immer noch im Flur. Warum standen sie im Türrahmen? Was hielt sie davon ab, ins Zimmer zu gehen?
Ich hörte, wie sie mit jemandem sprachen. Und dann hörte ich die Stimme meiner Mutter. »Hausfriedensbruch«, hörte ich sie rufen. Sie standen noch eine Weile im Türrahmen und versuchten offenbar herauszufinden, ob es meiner Mutter gutging. »Wer hat Sie überhaupt gerufen?« Wahrscheinlich sagten sie ihr, dass ihre Familie sich Sorgen gemacht hatte, weil sie nicht ans Telefon gegangen und die Tür nicht geöffnet habe.
Dann drehten sie sich um und zwängten sich an mir vorbei aus der Wohnung. Ich sah, wie einer von ihnen den Kopf schüttelte und sagte: »Wir gehen dann mal besser.« Sie schlossen die Tür hinter sich, und dann war es still in der Wohnung. Meine Mutter konnte nicht wissen, dass ich da war. Komischerweise hatte ich auf einmal das Gefühl, dass es falsch gewesen war, meinen Vater anzurufen, obwohl ich wusste, dass ich mir Sorgen gemacht hatte. Ich überlegte, ob ich möglichst leise die Wohnung verlassen sollte. Aber andererseits: Ich wusste immer noch nicht, was mit ihr war. Ich ging zu ihrem Schlafzimmer. Als ich hineinschaute, lag sie in ihrem Bett und starrte an die Decke. Wie abwesend. So hatte ich meine Mutter bis dahin noch nicht gesehen. Sie wirkte, als wäre ihr alle Kraft aus dem Körper entwichen. Ich sah ihre Arme, die so bleich waren, dass ihre
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