Als wäre es Liebe
müsste ich etwas sagen. Dann nickte sie, zu wem auch immer, nahm die Beine vom Sofa, setzte sich aufrecht hin, griff die Packung Zigaretten, die auf dem Tisch lag, und zündete sich eine an. Mir bot sie nie eine an, dabei bin ich mir nicht sicher, ob sie wusste, dass ich nicht rauche.
An dem Nachmittag erzählte sie mir auch von dem jungen Mann, wie er in Hamburg in die letzte Tram steigt, seine Hände in den Manteltaschen vergraben. Sie erzählte von dem jungen Mann, als habe sie ihn damals schon gekannt, als sei sie dabei gewesen, als er auf die letzte Tram gewartet hatte. Er ließ die anderen an sich vorbeifahren, versuchte, auch die letzte an sich vorbeifahren zu lassen, stellte sich vor, wie sie hielt, die Türen sich öffneten, Menschen ein- und ausstiegen und sich die Türen wieder schlossen und er immer noch draußen stand und zusah, wie sie losfuhr, seine Hände immer noch in den Taschen. Als sei diese Tram nicht die letzte gewesen. Er versuchte, sich einzureden, dass nach dieser noch eine andere käme, dass er nur warten und Geduld haben müsse, er hätte seine Hände in den Taschen lassen können, es war kalt genug, andere trugen Handschuhe und Schals. Es war dunkel, als die Tram vor ihm hielt, und der Innenraum so hell, so unwirklich hell, dass er die Gesichter der Menschen sah. Er wollte sie nicht sehen, da war sich meine Mutter sicher, er wollte an die nächste Tram denken, aber die junge Frau saß in einer der ersten Reihen, am Fenster, sie blickte ihm entgegen, ein Ausdruck von Einsamkeit, von Verlorenheit, während sich die Tram leerte. Ein blasses Gesicht, schmale Brauen und so liebliche, verschlossene Lippen. Als die Tram losfuhr, saß er zwei Reihen hinter ihr und seine Hände waren nicht mehr in seinen Taschen. Die Tram hielt immer wieder, aber er blieb sitzen. Am Ende waren sie nur noch zu dritt: der Fahrer, sie und er. Als hätte er es gewusst. An der letzten Station stieg sie aus. Und er hatte keine andere Möglichkeit, er musste die Tram verlassen. Sie hatte zwei Koffer dabei, die sie links und rechts mühsam über den Boden hielt. Sie ging allein einen Weg entlang, der sie wegführte von der erleuchteten Haltestelle, hinein in die Dunkelheit. Er ging ihr nach. Er hörte ihre Schritte, dann ein Keuchen, dann ihr Atmen. Er nahm nichts anderes mehr wahr, es pochte und pulsierte in ihm, die Erregung, die Macht, die ihn trieb, er war so dicht hinter ihr, er musste nur noch seinen linken Unterarm um ihren Hals legen, ihren Mund zuhalten. Fast zu spät merkte er, dass sie sich umgedreht hatte, ihn ansah im Dunkeln, und er war froh, dass er ihre Augen nicht sah, nur ihre Stimme hörte. »Welch Glück, dass Sie da sind«, sagte sie, »die Koffer sind so schwer, könnten Sie mir bitte helfen?«
Und er nahm die Koffer, als hätte er nichts anderes im Sinn gehabt. Sie drehte sich um, ging weiter, und er folgte ihr. Es war noch ein ganzes Stück, bevor sie zu dem Haus kamen, in dem sie lebte. Sie schloss die Tür auf, drehte sich zu ihm um, dankte ihm und ließ ihn zurück.
Meine Mutter sagte, sie habe ihn gefragt, warum er der Frau nichts getan habe, und er habe geantwortet: »Sie hat bitte zu mir gesagt.«
Er habe solch ein Bedürfnis nach Zuneigung gehabt, sagte meine Mutter. Und Zuneigung sei nichts anderes als Vertrauen. Er sei wie gefesselt gewesen durch ihr Vertrauen, sagte sie. Das Vertrauen, dass er ihr nichts tut, dieses Vertrauen in sich, das er selbst nicht hatte.
Eine besondere Taktik hat er bei der Entkleidung seiner Opfer entwickelt. Nach Durchschneiden der Kleidungsstücke hat er die Kleider seitlich zurückgeschlagen, dann seinen Oberkörper entblößt, die Hose heruntergelassen und den Geschlechtsverkehr ausgeübt. Auf Befragen, warum er dies gemacht habe, hat er angegeben, dass er die Körperwärme und die Brust seiner Opfer fühlen wollte und dass dies seinen geschlechtlichen Reiz erhöht habe. Anschließend reinigte er sich mit den Nylonstrümpfen sein Glied.
Sie geht durch den Kreuzgang, am Kalefaktorium und am Brunnenhaus vorbei. Vor dem Ausgang hängen mehrere Tafeln an der Wand, die beim letzten Mal noch nicht dort hingen. Sie weisen auf die Schäden am Putz und an den Farbfassungen hin. Der mikrobiologische Verfall bedroht die historische Substanz. Grüne Algenbeläge, Schimmelpilze. Sie haben sich in all den Jahren eingenistet, unsichtbar für das menschliche Auge, und am Zerfall gearbeitet. Wer weiß, wie lange dieses Kloster noch erhalten bleibt? Alter und Zerfall
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