Als wäre es Liebe
machen vor nichts halt. Es ist eine schreckliche Vorstellung, dass man den inneren Zerfall nicht spürt, dass man zerfressen wird, ohne dass man Schmerzen dabei hätte. Sie betrachtet die Wand, wie ein Mahnmal, das Aufplustern des Putzes an einigen Stellen, die ersten Risse, irgendwann wird der Staub auf den Boden rieseln. Es ist die Zeit der Reparaturarbeiten. Auch die Fassade ist eingerüstet. Der Ort verfällt, das Kloster ist eine Baustelle. Vor dem Paradies steht ein Laster mit laufendem Motor. Zwei Männer sitzen im Führerhaus und haben Brote ausgepackt. Der eine von den beiden sieht sie an. Aber dann verwickelt der andere ihn offenbar in ein Gespräch. Er lässt von ihr ab und wendet sich seinem Beifahrer zu.
Später, im Hotelzimmer, steht sie im Bad und versucht im Spiegel, die Frau zu sehen, die ihm zum ersten Mal begegnet war. Sie streicht sich die Haare in die Stirn, sie hatte damals kürzere Haare. Als sie jung war, wollte sie aussehen wie Jean Seberg, bestimmt hatte er nie von ihr gehört. Er hatte sich für andere Filme interessiert: »Aphrodite«, »Die zehn Gebote«, »Rififi bei den Frauen«, »Nitribit«, »Immer lockt das Weib«. Er hatte ein Foto an seiner Wand hängen, ausgeschnitten aus einer Zeitung: Nadja Tiller mit kurzem Höschen und nackten Beinen auf dem Rand eines flauschigen Betts sitzend, das vordere Bein aufgestellt, ein Schimmer ihrer gepunkteten Unterhose scheint hervor, der Blick in die Kamera, die Lippen leicht geöffnet, wie gut sie sich an das Foto erinnert! Nadja Tiller sah ihn an, kokett, ein wenig provozierend. Er konnte Frauen nicht ansehen, er hat ihnen jedes Mal die Augen zugehalten, wenn sie unter ihm lagen, oder ihnen ihre Blusen über die Gesichter gelegt. Sie hat oft versucht, ihm in die Augen zu sehen. Aber er hielt das nicht aus. Er hat es versucht, aber dann entschwand sein Blick jedes Mal. Sie wollte, dass er sie ansieht, dass er sich dazu zwang. Aber im Bad vor dem Spiegel erträgt sie ihren eigenen Blick kaum. Und dass sie seine Schwäche ausgenutzt hat und sich den anderen Frauen überlegen fühlte. Und in Gedanken, daran erinnert sie sich, Nadja Tiller von der Wand gerissen hat.
Es ist nicht so, dass ich sagen könnte, meine Mutter sei in den Jahren, in denen sie ihn getroffen hat, eine andere geworden. Aber manchmal überrascht sie mich. Vor kurzem hat sie mich gefragt, wie es mit meiner Arbeit bei der Zeitung läuft, was ich derzeit so lese und ob ich eine Freundin habe. Ich kann mich nicht erinnern, wann sie mich so etwas zum letzten Mal gefragt hat. Wir sehen uns auch wesentlich häufiger als in den Jahren zuvor. Meist komme ich bei ihr vorbei, und dann sitzen wir auf ihrem Sofa oder an ihrem Küchentisch und ich höre zu. Sie war noch nie in der Wohnung, in der ich seit sieben Jahren lebe. Manchmal lädt sie mich in »Rudis Eck« ein, eine seltsame Eckkneipe mit Eichentischen und Stühlen, in der ich schon beim Eintreten vom Wirt begrüßt werde. In der Regel sind wir nicht allein, weil immer ein paar ihrer Bekannten vorbeischauen, meist Männer, die sie schon lange kennt und mir vorstellt, der Peter, der Sepp, der Guido, die alle irgendwelche Filme gemacht oder Bücher geschrieben haben. Ich bin dann der Benno, auch wenn sie es nicht sagt, denke ich, dass der Peter, der Sepp, der Guido wissen, dass ich ihr Sohn bin. In der Regel fragt auch einer von ihnen, was ich gerade so mache, wie es so läuft im Leben, ich bin mir aber nie sicher, ob meine Mutter auch zuhört, weil sie meist seltsam abwesend wirkt, wenn es um mich geht.
Um es kurz zu machen: Ich schreibe nach wie vor Artikel für eine Berliner Tageszeitung und kann davon nur leben, weil ich mir nicht viel leiste. Eine Freundin habe ich nicht, ich lebe allein, schon seit zwei Jahren. Und das Buch, das ich derzeit lese, trägt den Titel: Wenn Frauen Mörder lieben. Und eine Stelle, die mir nicht aus dem Kopf geht, lautet: Der Mörder erwecke Mitleid, weil er im Tod lebe. Er strahle eine sexuelle Macht aus, weil er die Vernichtung verkörpere. Er sei die absolute Herausforderung der Zärtlichkeit.
Sie muss daran denken, wie ihm die drei Tage draußen zu schaffen machten. Drei Tage verteilt auf drei Jahre. Mehr waren es nicht, all ihre Erinnerungen schufen sich aus diesen drei gemeinsamen Tagen jenseits der Gefängnismauern. Tage im Ausnahmezustand. Wieso klammerte sie sich so an diese Erinnerungen? Weil sie Illusionen nährten? Und hat sie wirklich gehofft, er könnte eines Tages freikommen? Oder
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