Als wäre es Liebe
die jüngere: »Sie haben eine wunderbare Stimme. Wir waren vorhin in der Kirche, als Sie gesungen haben.«
Es war ihm anzusehen, wie sehr er sich freute. Er blieb vor ihnen stehen, wusste aber offenbar nicht, was er tun sollte, gab den beiden dann die Hand und öffnete die Lippen und fing an, Worte zu formen, tonlos, und erst später, als sie schon im Auto saßen, sagte er: »Erbarme dich, mein Gott.«
Ein wenig erschrickt sie jetzt darüber, wie wenig Empathie sie damals für die Frau aufbrachte, die sie in ihrem Wahn für eines seiner Opfer gehalten hatte. Diese Frau aber hätte in ihm nichts anderes sehen können als den grausamen Täter. Aber diese Taten waren nicht alles, was ihn ausmachte. In den Momenten, in denen er getötet hatte, war er außer sich, im reinsten Sinne des Wortes, wie oft sagt man das, ich bin außer mir, aber es muss so gewesen sein.
Ich habe meine Mutter gefragt, wie sie damit zurechtkomme, dass er vier Frauen getötet hat, die jüngste fast noch ein Kind. So furchtbar es gewesen sei, sagte sie, aber es sei etwas anderes als ein Mord aus Habgier oder anderen niederen Beweggründen. Der Psychiater hatte vor Gericht von einer »Sehnsucht nach Wärme, Freundschaft und einem geordneten Familienleben« gesprochen und vom »Mord als Panne«. Das entschuldige zwar das Töten nicht, sei aber eher zu verzeihen. In ihren Augen war er eine tragische Figur. Er sei ein Opfer seiner Kindheit. Letztlich ein Opfertäter. Oder Täteropfer. Aber er habe immer die Verantwortung für seine Taten getragen, er habe nie versucht, sie auf andere abzuwälzen, so wie es die meisten anderen Täter machten. Sie erstellen sich eine eigene psychologische Diagnose und erzählen von ihrer Kindheit, den Eltern, die sich gestritten und geschlagen haben, von der Sehnsucht nach Liebe und Fürsorge, von falschen Freunden und dem Gefühl, zum ersten Mal Macht über das eigene Schicksal zu haben, und der Aufmerksamkeit, die sie erfahren haben, der Angst, die andere auf einmal vor ihnen haben, sie haben für sich eine Kausalität entdeckt, von ihrer Geburt bis zur Tat. Dass sie sich ihr nicht widersetzt haben, begründen sie dann mit ihrer eigenen Schwäche, und das ist dann die Schuld, die sie sich selbst zuschreiben, weil sie wissen, dass es nicht überzeugend ist, sich jeglicher Verantwortung zu entziehen. Auch Friedrich habe diesen Determinismus für sich beansprucht, aber er habe ihn als sein eigenes Schicksal gesehen und habe gar nicht erst versucht, die Schuld bei anderen zu suchen. Weder beim Vater noch bei seiner Mutter.
Sie erzählte mir, dass seine Mutter ihn und seine Schwester regelmäßig in einen engen, dunklen Raum unter der Treppe gesperrt habe. Wir saßen bei ihr auf dem Sofa, als sie es mir erzählte, und sie hatte die Füße auf der Sitzfläche, saß auf ihren Unterschenkeln, einen Arm auf der Sofalehne, und sah mich dabei an, wie sie mich nur ansah, wenn sie von ihm erzählte: aufmerksam, als achte sie auf jede meiner Regungen, erwartungsvoll, als sei ich ihre beste Freundin. Sie hatte mich angerufen und gefragt, ob ich nicht vorbeikommen wollte, sie habe Kuchen gekauft. Sie hatte ihn in der Plastikverpackung auf den Tisch gelegt, ohne Teller, ohne Messer. Er blieb da liegen, verpackt, während sie erzählte, wie seine Schwester und er Schritte auf den Treppenstufen hörten, direkt über ihnen. Spitze Absätze der Mutter und ihr folgend schwere Stiefel, die das Holz zum Knarzen brachten. Sie erzählte, wie man Kindern eine Gruselgeschichte erzählte, mit Pausen, um die Spannung zu steigern, es schien mir sogar, sie spielte innerlich nach, was sie mir erzählte, steckte selbst in dieser Kammer unter der Treppe. »Manchmal blieb die Mutter mit dem Mann in der Mitte, direkt über ihnen, stehen, dann hörten sie die Stimme ihrer Mutter, sie konnten sogar das schwere Atmen des Mannes hören, und dann stolperten sie die Stufen hoch, es war, als würfe der eine den anderen gegen die Tür, ein Poltern, Schreie.« Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie nicht glauben, was diese beiden Kinder durchmachen mussten. Jede Woche mehrmals sei das vorgekommen, und immer sei es eine andere Männerstimme gewesen. Er sei damals zehn und seine Schwester sieben gewesen.
»Stell dir vor«, sagte sie, »in dieser Kammer fingen sie an, sich zu küssen. Und als es aufflog, wurden sie für immer getrennt. Da kann man doch verstehen, dass er seine Schwierigkeiten mit Nähe hatte.« Sie sah mich einige Momente lang an, als
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