Als wäre es Liebe
verstanden, dass er sich im Alltag erst wieder zurechtfinden müsste.
Fast wie eine besorgte Mutter erzählt die Wirtin von ihrem blonden Zimmerherrn. Sie hatte seinerzeit den Eindruck, dass P. gern zu Hause blieb. Lärmende Schlagermusik, laute Tanzveranstaltungen, alles, was junge Leute in seinem Alter zu fesseln vermag, interessierte ihn anscheinend nicht. Wenn er sprach, begann er stets mit einer höflichen Vorrede. Dass P.s Zimmer nie in Unordnung war, dass Hosen und Jacken ordentlich auf Kleiderbügeln hingen, dass nie Alkoholflaschen im Raum herumstanden und dass er nie von Frauen gesprochen hat, ist in ihrem Gedächtnis haftengeblieben.
Sie hat Glück mit dem Wetter. Als sie am Morgen in Maulbronn losgefahren ist, lag das Kloster, wie gestern, im Frühnebel, aber kaum dass sie den Ort hinter sich gelassen hatte, lichtete sich der Nebel, und bald schon war der Himmel zu sehen, klar und blassblau, mit trägen Wolken, die sich vereinzelt in großer Höhe verloren. Sie war mit Kopfschmerzen aus dem Bett gestiegen, was mit Sicherheit an der Hitze gelegen hat, über Nacht war die Heizung nicht abgeschaltet worden, sie glühte auf höchster Stufe vor sich hin. Fast panisch suchte sie nach einer Tablette, fand aber keine, sie überlegte, bei der Rezeption anzurufen und sich eine bringen zu lassen, aber das war ihr zu umständlich. Im Bad füllte sie sich ein Glas mit Leitungswasser. Sie war noch halb benommen von diesem fürchterlichen Schlaf, sie versuchte, sich an einen Traum zu erinnern, meist hat sie schlechte Träume, wenn sie bei zu großer Hitze schläft, aber sie wusste nicht, was sie geträumt hatte.
Nachdem ich der Nachbarin die Eier gegeben und die Tür wieder geschlossen habe, bleibe ich einen Moment im Flur stehen und erinnere mich, wie ich damals im Flur stand, nachdem mein Vater den Notarzt gerufen hatte, und nicht wusste, was mich im Schlafzimmer erwartete. Ich halte kurz den Atem an, drücke dann die Tür auf, die ich vorhin einen Spalt offen gelassen habe und betrete ihr Schlafzimmer. Sie hat immer darauf geachtet, dass ich nie allein in diesem Zimmer war. Und als sie mich einmal ertappte, wie ich in ihrem Schlafzimmer vor dem Bücherregal stand und meine Finger über die Buchrücken gleiten ließ, fragte sie, ob ich ihr nachspioniere. Ich frage mich, ob sie damit rechnet, ob sie darüber nachgedacht hat, dass ich mich in ihrer Wohnung umschauen könnte, bevor sie mir den Schlüssel im Briefkasten hinterließ.
Im Schlafzimmer steht ein alter Kleiderschrank aus dunklem Holz, am Fenster ihr Schreibtisch, darauf eine Schreibmaschine, neben dem Tisch ein Bücherregal, an der gegenüberliegenden Seite das Bett, im Gegensatz zum Wohnzimmer liegt hier nichts durcheinander, keine Bücher auf dem Boden, keine Gläser auf dem Tisch, es wirkt fast unbewohnt. Ich gehe zum Nachttisch. Dann schließe ich kurz die Augen und öffne die Schublade.
Sie saßen auf dem Ausflugsboot, als er etwas tat, worüber sie im ersten Moment erschrak. Sie weiß nicht, ob er es wahrgenommen hat. Es war nicht der Schlag an sich, der sie erschreckte, sondern der Gedanke, den er in ihr auslöste. Verrückt, er ist verrückt. Und sie haben recht. Dass er sich mit seiner Hand gegen die Stirn schlug, kam so plötzlich und unerwartet, vor allem in der Gewaltigkeit, mit der er es tat. Das dumpfe Klatschen hallte nach. Sie sah, dass auch Fritzmann, der neben ihm saß, kurz zusammenzuckte. Allen stand der Schreck im Gesicht, und er hätte lachen können im nächsten Moment, laut loslachen. Er sagte, Engel haben eine flache Stirn. In ihrer ersten Verwirrung versuchte sie, sich einen Engel vor Augen zu führen. Und sah einen dieser Kinderengel. Einen blonden Buben, in Windeln bekleidet, mit zwei Flügeln. Ihr erstes Bild vom Engel war das einer Putte. Sie war nicht mal in der Lage, sich einen Engel vorzustellen. Später hat sie sich die Engel angeschaut, hat Kunstkataloge geblättert und sich Cherubinis Jungen betrachtet, dabei schaute sie immer nur auf die Stirn, und sie glaubt, dass er recht hatte. Engel haben eine flache Stirn. Aber er hatte keine. Selbst beim besten Willen ließ sich nicht sagen, dass er eine flache Stirn hatte. Wie kam er überhaupt darauf, dass er ein Engel sein könnte? Als würden Menschen zu Engeln, und dann ausgerechnet er? Aber sie wollte ihm nicht das Bild zerstören. Stattdessen fragte sie ihn später, als sie den Neckar stromaufwärts fuhren, warum er glaubte, Engel hätten eine flache Stirn. Er sah sie an,
Weitere Kostenlose Bücher