Als wäre es Liebe
und damit die Strömung sonst zu stark seien. Dann lief das Wasser in den Schacht, und der Pegel stieg sanft und stetig. Das Boot wurde vom Wasser gehoben, so still und schwerelos. Eine unsichtbare Kraft, die keine Mühe hat, große Schiffe in die Höhe zu befördern. Das Wasser, das keinerlei Aufhebens macht um die eigene Kraft. Der Wasserspiegel kletterte an der Wand empor, und das Boot näherte sich gleichmäßig der Welt über dem Schacht. Die Giebel der Häuser kamen ins Sichtfeld, die Kuppen der Hügel und dann die Straßen, die Radfahrer, Menschen, die an einer Bushaltestelle warteten, es war wie ein Auftauchen aus der Unterwelt. Er setzte sich erst wieder, als das vordere Schleusentor sich öffnete, der Diesel wieder in Gang kam und das Boot langsam aus der Schleuse hinaus auf den Fluss fuhr. Das Erlebnis schien seine Stimmung belebt zu haben. Er schaute von da an immer wieder über die Reling, hielt sein Gesicht in den Fahrtwind, der bei der Geschwindigkeit nicht sonderlich stark war, aber ausreichte, um ihm Tränen in die Augen zu treiben. Seine Augen bekamen einen so anderen Glanz. Wie sehr diese Tränen, auch wenn es falsche waren, Windtränen, sein Gesicht veränderten. Was sie sah, waren keine feuchten Augen, sondern eine tiefe Trauer, die sein ganzes Gesicht ergriffen hatte. Sie erschien ihr wie eine Erlösung. Nie zuvor hatte sie ihn so gelöst gesehen. Wahrscheinlich empfand er es selbst auch so, er hielt immer wieder sein Gesicht in den Wind, es ging schon längst nicht mehr um die Schleuse. Erst jetzt wird ihr klar und sie fragt sich, warum sie damals nicht darauf gekommen war, dass er sich nach der Berührung gesehnt hat, der Berührung des Windes, er streichelte seine Wangen. Wahrscheinlich hatte ihm noch nie ein Mensch die Wangen gestreichelt. Und welche Sehnsucht in ihm war! Sie kann sein Gesicht nicht vergessen, weil sie darin die Trauer sah und er gleichzeitig eine Wonne verspürte, die ihn so lebendig werden ließ. Er schüttelte immer wieder den Kopf, um ihr anzudeuten, dass nichts zu sehen war von einer weiteren Schleuse. Nur um dann gleich wieder nach vorn zu schauen. Sie hätte am liebsten gesagt: »Es ist gut, dass du schaust. Schau, so lange es geht.« Was würde sie dafür geben, noch ein letztes Mal mit ihm auf einem Boot sitzen zu können. Ihn nach Schleusen schauen zu lassen, nach Bojen, nach anderen Schiffen, ihm zu sagen, er sollte aufpassen, dass sie nirgendwo gegen führen, »Friedrich, behalte die Welt vor uns im Blick.« Sie hätte damals ein Foto machen sollen, vom Bug aufgenommen, sein Gesicht über der Reling. Die Haare streng aus dem Gesicht geweht, die Augen womöglich geschlossen. Aber es gibt dieses Foto nicht. Nur die Erinnerung.
Mein Vater hatte zusammen mit anderen in der Cafeteria des Pfarrhauses das studentische Büro für politische Parolen eingerichtet. Nicht dass ich mich für diese Zeit sonderlich interessiert hätte, mir war egal, was sie damals alles auf die Beine stellten, und dass mein Vater Parolen erfand, an deren Wortlaut er sich bis heute noch erinnerte. Wer hat dich, du grüner Wald, hingestellt und schlecht bezahlt. Es ärgert mich sogar, dass ich es mir, gegen meinen Willen, gemerkt habe. Aber in diesem Zusammenhang ist er meiner Mutter zum ersten Mal begegnet. Eines Tages war sie dabei, eine Studentin der Germanistik, die, so sagt mein Vater, ausgesehen habe wie Jean Seberg. Ich wusste nicht, wer Jean Seberg war, und fand erst später ein Foto und legte es neben ein altes Foto meiner Mutter, auf dem sie eine zu große Sonnenbrille trug und kurze Haare. Zu dem Zeitpunkt war sie schwanger, was sie offenbar aber noch nicht wusste, weil sie so unbeschwert wirkt. Ihren Kopf zur Seite gelegt, die rechte Hand erhoben, offenbar winkend, die Lippen leicht geöffnet, verführerisch. Ich muss sagen: Meine Mutter war eine sehr schöne Frau. Ich konnte verstehen, warum ihr die Männer nachliefen. Ich habe mir das Foto später aus der Schublade genommen, in der mein Vater es aufgehoben hatte. Ich habe nie erfahren, ob er es vermisst hat. Es gibt auch ein Foto von mir an meinem dritten Geburtstag, mit Kuchen, drei Kerzen und Mutter und Vater im Hintergrund. Auch das habe ich mir genommen. Ich habe noch nach anderen Bildern gesucht. Nach einem Album, in dem sie eingeklebt und beschriftet waren, oder zumindest nach einer Kiste oder einem kleinen Karton. Ich habe, als mein Vater nicht zu Hause war, die Wohnung durchsucht. Ich habe in die Schränke geschaut, in die
Weitere Kostenlose Bücher