Als wäre es Liebe
blauen Äderchen durchschimmerten. Ihre Kleider lagen auf dem Boden vor dem Bett.
»Geht’s dir nicht gut?«, fragte ich.
Es dauerte einen Moment, bis sie ihren Blick auf mich richtete. Dann schüttelte sie den Kopf, und ich weiß bis heute nicht, ob aus Unverständnis darüber, dass wir ihr den Notarzt aufgehalst hatten, oder ob es ihre Antwort auf meine Frage war. Kurz darauf schien sie wieder zu Kräften zu kommen, setzte sich auf und fragte: »Hast du deinen Vater angerufen?«
»Ich habe mir Sorgen gemacht«, sagte ich.
»Ich brauche niemanden, der sich in mein Leben mischt. Aber wenn du schon da bist, kannst du mir ein Glas Wasser holen.«
Ich ging in die Küche, füllte ein Glas mit Wasser und stellte es auf ihren Nachttisch. Die Schublade stand einen Spalt offen und ich sah die Packung Vivinox. Sie lag da, ungeöffnet, wie mir schien. Ich ließ mir nichts anmerken und verließ wortlos die Wohnung.
In der Schublade ihres Nachttisches finde ich ein Moleskine-Heft. Es fällt mir nicht leicht, es herauszunehmen. Welches Recht habe ich, es aufzuschlagen? Ich setze mich auf ihr Bett, nehme es in die Hand und streiche über den Deckel. Dann schlage ich es auf und sehe unlinierte Seiten, ihre Handschrift, nach Tagen geordnet. Beim Durchblättern sehe ich, dass auf einigen Seiten nur einzelne Sätze stehen, andere von oben bis unten vollgeschrieben sind. Offenbar hat sie in den letzten Jahren alles aufgeschrieben. Ich schlage das Buch wieder zu, halte es fest und weiß nicht, ob ich es tun soll. Andererseits: Habe ich nicht das Recht, zu erfahren?
Als sie mittags in Heidelberg ankommt, ist der Himmel über dem Neckar in ein vergrautes Blau getaucht. Ein kühler, klarer Herbsttag. Es ist nicht das Boot, mit dem sie damals gefahren waren, das wäre auch zu viel verlangt. Sie weiß nicht mehr, wie ihres hieß, aber nicht Georg Fischer. Man konnte damals auf dem Dach sitzen, dort standen Reihen von Bierbänken, auf denen viele ältere Frauen mit großen Sonnenhüten saßen. Auf der Georg Fischer stehen nur wenige Stühle und Tische auf dem hinteren Deck. Es sind nicht viele Passagiere an Bord, die meisten von ihnen sitzen in der Kajüte, draußen nur ein älterer Mann und zwei Frauen in seinem Alter. Sie haben sich die Kragen unters Kinn gezogen, die eine hat einen Schal mehrfach um den Hals gebunden, die andere hält sich die Enden ihres Kragens mit der linken Hand zu. Sie sitzen auf der Seite, die im Sonnenlicht liegt. Sie hat sich einen Platz an der Kajütenwand gesucht, der ihr windgeschützt erschien, dafür aber schattig ist. Mit dem Ausstoß einer Dieselwolke schiebt sich das Boot vom Ufer. Die Reling vibriert, der Lärm des Motors übertönt die Durchsage, sie versteht nur vereinzelte Worte. »Willkommen«. »Zur Linken«. »Roter Sandstein«. Sie blickt nicht zur Seite, weder nach rechts noch links, sieht die Gebäude am Ufer erst, wenn diese achtern in ihr Blickfeld geraten. Sie betrachtet den Fluss, wie er in all seiner Ruhe daliegt und nicht zu fließen scheint. Sie entfernen sich von der einen Brücke und unterqueren bald schon die nächste. Sie versucht, etwas Treibendes zu entdecken. Laub, eine Tüte, ein Stück Holz, irgendetwas. Dann rückt auf einmal eine Hand in ihr Blickfeld, sie klammert sich an die Reling. Der alte Mann hat seinen Arm auf das Geländer gelegt. Erst jetzt sieht sie, wie groß seine Hand ist. Überproportional. Er muss sie unter dem Tisch gehabt haben, vielleicht hatte sie auf seinem Oberschenkel gelegen, sie wäre ihr aufgefallen, hätte sie vorher schon auf dem Tisch gelegen. Sie spürt ein leichtes Schaukeln, vielleicht werden sie gerade von den Bugwellen eines anderen Bootes erfasst, sie sieht aber kein Boot, sie sieht nur diese Hand, die viel zu groß ist für die Reling dieses Boots.
Sie ist froh, als der Mann die Hand von der Reling nimmt. Das monotone Knattern des Diesels verändert sich, das Boot verlangsamt seine Fahrt. Das muss wegen der Schleuse sein, sie kann sich noch erinnern, wie sie damals einfuhren und er nicht wusste, was als Nächstes geschehen würde. Er hatte sich über die Reling gebeugt und sah besorgt zu, so schien es ihr zumindest, wie sich die Schleusenwand hinter ihnen schloss. Vielleicht machte ihn diese plötzliche Enge nervös. Das Boot schwamm am Grund dieses Schachtes, die Wände ragten über das Boot hinaus. Sie sagte ihm, es sei eine Schleuse. Sie erklärte ihm, dass Schleusen nötig seien, um den Neckar schiffbar zu machen, weil das Gefälle
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