Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Als wäre es Liebe

Als wäre es Liebe

Titel: Als wäre es Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicol Ljubic
Vom Netzwerk:
Diesel wieder lauter wird, sie noch eine kleine Schlaufe fahren und dann in den Schacht hineingleiten, haben sich die Enten längst wieder am Ufer versammelt, auf das nächste Ausflugsboot wartend. Hier, an der zweiten Schleuse, wirkte das Panorama wie die Gegenwelt zum kühlen Schacht. Kaum dass ihre Gesichter über die Mauer gehoben wurden, schien auch die Sonne wieder, der Himmel bekam seine Horizontale zurück, das Leben kehrte zurück, sie konnte in eine Küche blicken, eine Frau stand am Fenster, und so, wie sie hinausschaute, so abwesend, waren ihre Hände mit Sicherheit gerade dabei, einen Teig zu kneten oder im warmen Spülwasser nach dem letzten Besteck zu tasten. Ein Schritt und er hätte über die Reling von Bord steigen können, er hätte sich zu den Wartenden stellen können, die der nächste Bus von hier weggebracht hätte. Man hätte ein Suchspiel machen können von dieser Momentaufnahme: Finden Sie den Mörder! Und sie versucht, sich das Bild von dieser Welt in diesem Moment vor Augen zu führen. Wer von ihnen ist der Mörder? Der bärtige, wuchtige Kerl in der Lederjacke, der neben der Haltestelle an einem Baum lehnt? Der alte Mann, der sich gerade schimpfend bückt, um ein Kaugummipapier aufzuheben? Die Frau hinter dem Fenster, die so sehnsüchtig nach draußen blickt? Oder der alte Mann in seiner Jeans und dem zu weiten Pullover, der auf dem Grünstreifen neben der Haltestelle kniet und ein paar gelblich verfärbte Blätter betrachtet, die von der Buche gefallen sein müssen? Er machte keine Anstalten, über die Reling zu klettern. So wie er nie irgendwelche Anstalten gemacht hatte, abzuhauen. Sie mussten immer mit dem Auto fahren, obwohl er lieber mit dem Zug gefahren wäre, aber sie erlaubten ihm nicht, mit dem Zug zu fahren, aus Angst, er könnte einen Fahrgast als Geisel nehmen oder die Notbremse ziehen. Er hat auch ihr gegenüber nie eine Andeutung gemacht, dass er einen Weg in die Freiheit suchte, dass er von ihr dabei Hilfe erwarten könnte. Vielleicht hat er ihr nicht vertraut? Oder zu sehr vertraut? Sie weiß nicht, ob er in seiner Phantasie nach Möglichkeiten gesucht hat, aus dem Gefängnis zu entfliehen. Ob er sich Pläne gemacht hat. Er hat darüber nie gesprochen. Und sie auch nicht.
    Das Dickicht am Ufer wird immer dichter und undurchdringlicher. Bäume, deren Äste sich über das Ufer beugen und einen natürlichen Schutz bieten, ein Wirrwarr aus Stacheln und Kletterpflanzen, das sich bis zum Wasser zieht. Ein Kind liebt eine solch ungezähmte Natur, es sucht sich Verstecke in diesem Dickicht, es hockt dann dort, hält den Atem an und hofft, dass die Schritte, die es hört, das Knacken der Äste, das Rascheln der Zweige, nicht näher kommen. Es wartet, bis es dunkel wird, und wenn es nach Hause kommt, hat es Spuren an Armen und Schienbeinen von den Dornen, die sich im Stoff verfangen haben. Es wäre auch ein ideales Versteck für eine Leiche. Dort, am Ufer, zwischen den Dornen, hätte man die Frauen niemals gefunden. Nicht mal die Natur behält ihre Unschuld.
    Beim letzten Mal sind sie vier Stunden flussaufwärts gefahren, und spätestens nach seiner Unterhaltung mit den Enten färbte diese gemächliche Bootsfahrt, die er sich so gewünscht hatte – einmal auf dem Fluss, wenn schon nicht auf dem Meer –, auf ihre Gemüter ab. Sie kamen in Ausflugsstimmung, waren so gelassen und hatten bald schon Fritzmann und den Pfarrer vergessen, die eine Bank entfernt saßen. Fritzmann in seiner verlebten Wildlederjacke, die er nicht mal auszog, als ihm der Schweiß schon auf der Stirn stand. Und der Pfarrer wie immer in einem zu weiten Pullover und Jeans, die jede Menge Falten warf. Ein Buch in der Hand. Die Frau aus Worms servierte ihnen ein paar Stücke Butterkuchen, wofür alle ein wenig auseinanderrücken mussten. Sie reichte jedem ein Stück und holte dann eine Thermoskanne aus einem Beutel. Das Erstaunliche war, dass sie auch noch mehrere Becher dabeihatte, sie drückte jedem einen in die Hand, klemmte die Kanne zwischen ihre Schenkel, öffnete sie und schenkte mit etwas zittriger Hand ein. »Ich hoffe, Sie mögen meinen Kaffee«, sagte sie. »Ich trinke ihn nicht so stark, müssen Sie wissen.« Er schmeckte wie heißes Wasser mit einem Hauch von Koffeingeschmack. Und während sie aßen und tranken, schaute die Dame aus Worms ihn immer wieder provozierend lange an, was er offenbar nicht bemerkte. Vielleicht war es so, dass er längst kein Empfinden mehr hatte für diese zarten Gesten

Weitere Kostenlose Bücher