Als wäre es Liebe
dass es die Sexualität sei, die die Verhältnisse ändere. Weil sie Tabus bricht und gegen die Verlogenheit der bürgerlichen Werte angeht. Zur Freiheit kommt man nur über die Sexualität. Und wer frei ist, lebt auch seine Sexualität frei aus. Ich glaube, mein Vater hat darunter gelitten. Oft, wenn ich morgens aufwachte und wir zusammen frühstückten, saßen mein Vater und ich allein am Tisch. Anfangs fragte ich noch, wo meine Mutter sei, aber ich spürte, dass es meinem Vater zunehmend schwerfiel, sich etwas auszudenken, und irgendwann fragte ich nicht mehr. Zum ersten Mal seit Jahren denke ich wieder an Anne. Als ich sie kennenlernte, war ich zwanzig. Sie war die erste Frau, mit der ich geschlafen habe. Nicht gleich, es hat ein paar Wochen gebraucht, und die Initiative ging von ihr aus. »Entspann dich«, sagte sie, und noch Jahre später, wenn ich daran dachte, fühlte ich mich wie ein kleiner Junge, dem beim Zahnarzt gesagt wird, er brauche keine Angst zu haben. Sie zog mich aus, erst den Pullover, sie betrachtete mich, dann öffnete sie den Knopf meiner Hose. Bis heute merke ich manchmal, wie sich dieses Bild vom Jungen in mir gefestigt hat. Zu allem Überfluss kam ich zu früh. Und dann sprach meine Mutter auch noch von der befreiende Kraft der Sexualität. Was für eine Bürde! Die Sexualität war für mich fortan der Versuch, diesen Jungen loszuwerden. Ich probierte es an einigen Frauen aus. Machte mich stärker, als ich war. Wehrte mich gegen die Schwäche. Sah in meiner Vorstellung, wie ich meine Hände um ihren Hals legte, sie an den Haaren zog, ihre Handgelenke umfasste, mit aller Kraft, bis ich die Angst in ihren Augen sah, und redete mir ein, dass es ihr gefiel. Aber ich kam zu früh. Und wurde den Jungen nicht los. Der Sex, der die Gesellschaft ändert. Zum ersten Mal frage ich mich, ob es nicht auch nur der Versuch meiner Mutter war, das Mädchen in sich loszuwerden. Und ob das große Ganze, ihr Kampf, davon nur ablenken sollte.
»Möchten sie noch einen Schluck?«, fragte die Dame aus Worms und hielt ihre Thermoskanne schon bereit. Er schüttelte den Kopf. »Ich habe Ihnen schon so viel von mir erzählt«, sagte sie, »ich würde gern wissen, wer Sie eigentlich sind.«
»Sein Name ist Friedrich«, sagte sie. Die Dame aus Worms zwinkerte ihm zu. »Und was machen Sie so, Herr Friedrich?«
»Mal dies und mal das«, sagte er.
»Sie sind also ein unsteter Geselle, wie mir scheint. Wissen Sie was?«, sagte die Dame aus Worms und zwinkerte wieder, »das sind mir die liebsten. Mein Karl war auch so einer, hatte Hummeln im Hintern, konnte keine Stunde ruhig irgendwo sitzen. So war er in allen Lebensbereichen. Er hat Autos repariert, er war Vertreter, er war Fahrer, später, als es gesundheitlich nicht mehr ging, wurde er Hausmeister. Ich habe immer gesagt, Karl, du bist alt genug, jetzt ruh dich doch mal aus und genieße deine letzten Jahre. Aber das konnte er nicht. Und wissen Sie, wie er letztlich von mir gegangen ist? Ich hatte ihm die Liege in den Garten gestellt, hatte gerade die Beete neu bepflanzt und sagte, Karl, jetzt legst du dich auf die Liege und siehst dir mal an, wie schön unser Garten geworden ist. Er murrte, dann setzte er sich auf die Liege und dachte noch darüber nach, ob er die Schuhe ausziehen sollte oder nicht. Er sah mich an und spürte, dass ich es ihm übelgenommen hätte, und dann zog er sich die Schuhe aus, legte sich rücklings auf die Liege. Ja, sagte er, es ist wirklich schön bei uns. Ich ging ins Haus, um uns Kaffee zu machen, und durch das Fenster sah ich, wie er die Augen geschlossen hatte, und ich dachte, endlich kommt er mal zur Ruhe. Ich bin dann raus mit dem Tablett, habe es auf den Tisch neben die Liege gestellt, mich in den Stuhl gesetzt und in Ruhe meinen Kaffee getrunken. Ich wollte ihn nicht wecken. Ich war so froh, dass er nicht nach fünf Minuten wieder aufgeschreckt war. Wissen Sie, ich saß fast zwei Stunden neben ihm, als mir dieser Gedanke kam und mir unwohl wurde. Erst habe ich ihn angeschaut, aber er sah so friedlich aus, dass ich zögerte, aufzustehen, um an seine Liege zu treten. Ich weiß nicht, warum, aber auf einmal war ich mir sicher, dass er eingeschlafen war, und zwar für immer. Ich saß noch eine Weile im Stuhl. Dann stand ich auf. Sagte: Karl. Aufwachen. Aber ich wusste, dass er nicht aufwachen würde. Karl war von mir gegangen. Und wissen Sie, was ich mich seitdem immer wieder frage? Ob ich der Grund war, weshalb Karl so ruhelos war.
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