Als wäre es Liebe
zwischen Frau und Mann. So sehnsüchtig wie er nach dieser Form von Anteilnahme gedürstet hat, ein Leben lang, wirkte es, als hätte er die Hoffnung längst aufgegeben, als hätte die Gewalt, die er Frauen angetan hatte, sein Sensorium zerstört. Hat er nicht bemerkt, wie sie versuchte, ihm nahezukommen? Erst die Blicke, das übertriebene Lächeln, wenn sich ihre Blicke trafen, dann dieser Moment, als sie ihre Hand auf sein Knie legte und sagte, was für ein unterhaltsamer Mann er sei und dass sie sich schon lange nicht mehr solcher Art amüsiert habe.
In der Wahl seiner Opfer war er nicht wählerisch. Er nahm, was ihm in die Finger kam, alt und jung.
Er hatte sein Leben lang kein Verhältnis zu seiner Sexualität. Aber Phantasien. Er wollte die Frauen zwischen den Augenbrauen küssen, er wollte ihre Schamhaare zählen. Er stellte sich vor, mit einer Frau mit Hasenscharte zu schlafen und mit einer amputierten Frau. Sie hatten eine Broschüre bei ihm gefunden über die Kunst der Erregung von Dr. Rolf Verthen. Sie war ein Jahr vor seinen Morden erschienen. »Die Frau sollte dem Manne beim Verkehr das Ruder überlassen. Sie sollte nicht versuchen, von sich aus den Erregungsverlauf zu beeinflussen. Am günstigsten ist es, wenn sie sich ihren Gefühlen voll und ganz hingibt, ohne auch nur im Geringsten dabei aktiv tätig zu sein. Die passive Einstellung, die ihr von der Natur gegeben wurde, sollte sie unbedingt beibehalten.« – »Es gibt eine Art von Literatur, die zu dem Zweck geschrieben ist, dass sich der Leser sexuell anregen lässt. Man kann dazu nun sagen, dass es ein sehr trauriges Zeichen für die Menschheit ist, wenn sie sich solcher Mittel zu ihrer sexuellen Anregung bedient. Und wenn man näher hinsieht, erkennt man, dass es sich dabei fast immer entweder um Impotente, sittlich Verkommene oder verdorbene Jugendliche handelt.« – »Es gibt bestimmte Männer, von denen sich bestimmte Frauen rein körperlich abgestoßen fühlen, so sympathisch sie ihnen auch innerlich sein mögen. Dies liegt an der Art der gegenseitig ausströmenden elektrischen Wellen, die in solchen Fällen einfach nicht zusammenpassen.« – »Die Kunst der Erregung sollte nie bei der äußeren Zone beginnen. Immer muss die innere, die seelische zuerst angesprochen werden, denn die Frau baut ihre Gefühle zum Mann nie von außen nach innen, also nicht vom Körper zur Seele, sondern stets von innen nach außen, also von der Seele zum Körper auf.« – »Wie ich schon früher betonte, ist eine erste Kontrollstation der Kuss. Bei ihm treten drei Sinnessphären gleichzeitig in Aktion. Die Gefühls-, die Geruchs- und die Geschmackssphäre. Beim Kuss berühren sich zum ersten Mal zwei Körperöffnungen, die reizempfindlich sind. Der Mann, der ja auch hier der Leitende ist, wird im Allgemeinen immer erregt sein, noch bevor es zum Kuss selber kommt. An der Reaktion der Frau wird er dann erkennen, inwieweit sie überhaupt sexuell empfindlich ist. Reagiert sie nicht, so können vier Ursachen Schuld daran sein: 1. Die Frau beherrscht sich aus irgendeinem Schamgefühl heraus. 2. Sie ist sexuell noch vollkommen ungeweckt. 3. Der Mann passt körperlich nicht zu ihr. 4. Sie ist sexuell überhaupt kalt.« – »Oft genügt also schon der richtige Kuss, um den Schoss der Frau zu öffnen, sodass der Verkehr ohne Hemmungen vonstatten gehen kann.«
Auf einer der Seiten finde ich einen Absatz, den meine Mutter geschrieben hat. »Hat er jemals eine Frau geküsst? Er hat nie einen Versuch unternommen. Nicht mal zur Begrüßung oder zum Abschied. Wann ist ihm das Küssen abhandengekommen? Die Nähe, das Vertrauen?« Und dann ein paar Sätze weiter: »Habe ich jemals einen Mann geküsst? Richtig geküsst?«
Ich habe die Schubladen ihres Schreibtisches durchsucht, ich habe ein wenig in ihrem Kleiderschrank gewühlt, anfangs noch darauf geachtet, dass die Hemden und Hosen nicht durcheinandergeraten, mich dann aber nicht mehr bemüht, sie ordentlich zurückzulassen. Meine Mutter trägt fast ausschließlich Jeans, Kleider besitzt sie kaum. Ich habe sogar zwischen ihren Unterhosen nachgesehen, sie scheinen mir sehr edel, fühlen sich fast seidenartig an. Ich nehme eine heraus und halte sie in die Luft. Das Licht schimmert hindurch. Ich wundere mich, was meine Mutter offenbar immer noch unter ihrer Jeans trägt. Aber ich weiß, dass sie, früher zumindest, eine ausschweifende Sexualität hatte. Sie sprach von der revolutionären Kraft der Sexualität. Und
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