Als wäre es Liebe
heben, das Kinn liegt ihr auf der Brust. So gekrümmt, wie sie dort sitzt, kann sie wahrscheinlich gar nicht sehen, wie sich die Wolken über ihr zusammenziehen. Ich frage mich, ob man sie vergessen hat. Aber dann sehe ich einen Mann aus dem Haus kommen. Er geht auf die Bank zu, bleibt vor ihr stehen, bückt sich hinunter, damit sie in sein Gesicht sehen kann. Er sagt etwas, dann schiebt er seine Hände unter ihre Beine und hebt sie von der Bank, sie legt den rechten Arm um seinen Nacken, so zerbrechlich sieht sie aus, als müsste er aufpassen, dass er sie so sanft wie möglich in den Rollstuhl setzt, um sie nicht zu verletzen. Stattdessen aber hebt er die alte Frau ein Stückchen höher und dreht sich einmal, mit ihr auf dem Arm, im Kreis. Er dreht sich ganz langsam, sodass ihr nicht schwindelig wird. Dann erst setzt er sie in den Rollstuhl, und es scheint, als habe es ihr gefallen, weil sie nur zögerlich ihren Arm von seiner Schulter nimmt. Dann schiebt er sie zurück ins Haus, und ich frage mich, ob die alte Frau seine Mutter ist.
Als ich mich umdrehe, um wieder in die Wohnung zu gehen, sehe ich ein Vogelhäuschen an der Hauswand. Ich kann es kaum glauben, dass sich meine Mutter ein Vogelhäuschen an die Wand gehängt hat. Ich erinnere mich, dass sie spöttisch über Frauen gesprochen hat, die im Alter auf einmal die Liebe zur Natur entdeckten, anfingen, ihre Balkone zu bepflanzen, mit einem Körbchen in der Hand nach Pilzen suchten oder noch schlimmer: sich eine Staffelei zulegten und dann auf einer Waldlichtung standen und sich vom Licht inspirieren ließen. Ich werfe einen Blick ins Vogelhäuschen. Es liegt sogar Futter darin.
Zurück in der Küche, sehe ich, dass der Spatz wieder auf dem Geländer sitzt, sich umschaut und dann hinter dem Fenstersims verschwindet.
Sie bittet den Pastor, ein paar Minuten allein bleiben zu dürfen. Er sagt, sie solle sich Zeit nehmen, er sei drüben im Pfarrhaus, falls sie ihn brauche. Sie weiß nicht, was er denkt. Er wird sich ein Schicksal für sie überlegen. Ein Verlust, den sie vor drei Jahren erlitten hat. Den Tod eines Angehörigen. Er ist so pietätvoll und fragt nicht nach. Allein in der Kirche sitzend, sieht sie seine Hände wieder vor sich. Wie sie sich anfangs an der Lehne der vorderen Bank festhielten und er die Maserung des Holzes zu betrachten schien und dann seine Hände auf die Beine sacken ließ.
Sie hatten Angst vor seinen Händen, weil sie so groß waren. Wenn man genau hingeschaut hat, konnte man aber die Verletzungen sehen, seine Nietnägel hatten kleine Risse und unterhalb der Nägel wunde Stellen. Es waren Verletzungen, die er sich selbst zufügte. Andere schneiden sich im Gefängnis die Adern auf, sie schlagen ihre Köpfe gegen die Mauern, manche schlucken sogar Gabeln und Messer, weil sie es in ihren Zellen nicht mehr aushalten. Er hatte nur seine wunden Nietnägel.
Sie hatte ihre Hand auf seine legen wollen, ihn halten, aber ihre Hand war viel zu klein, im Vergleich zu seiner war ihre die eines kleinen Mädchens. Deshalb schob sie ihre unter seine. Sie spürte das Gewicht seiner Hand auf ihrer und hätte sich nicht gewundert, hätten die Stoffrippen seiner Cordhose einen Abdruck auf ihrer Haut hinterlassen. Sie sah, wie Fritzmann den Ärmel seines Pullovers hochschob und auf die Uhr sah. Offenbar quälte er sich an diesem Ort. Pfarrer Schmidt nahm das Liederbuch in die Hand und blätterte darin herum. Er war der Einzige, der damals schon wusste, dass Friedrich ihr mehr war als ein Opfer, um das sie sich kümmern musste. Sie hatten nie darüber gesprochen, aber in der Art, wie er ihr begegnet war und wie er sie einband, war ihr klar, dass er auf ihre Nähe zu Friedrich vertraute. Nach außen hin hielt er sie immer heraus, aber er ließ sie teilhaben, er zeigte ihr ungefragt Akten und Briefwechsel, er rief sie in den Jahren immer wieder an und erzählte ihr von seinen Besuchen im Gefängnis. An jenem Vormittag in der Kirche klappte er das Buch zu, mit Schwung, dass es nicht zu überhören war, und sah sich dann erst um. Sie hatte gehofft, Friedrich würde seine Hand so schwer machen, wenigstens für einen Moment, dass es ihr schwerfiele, ihre hervorzuziehen.
Von Schmidt hat sie erfahren, dass sich Friedrichs Zustand, seit sie ihn vor einem halben Jahr das letzte Mal gesehen hat, zunehmend schlechter geworden war. Am Ende hat er kaum noch sehen können, alles um ihn herum hatte sich verdunkelt, er hatte Blitze am hellen Tag gesehen. Vier Tage bevor
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