Als würde ich fliegen
blieb. Er trainierte zwei Stunden am Tag und verschwand stundenlang auf einem Leihfahrrad. Wenn sich seine Stimmung verdüsterte, wenn er klagte, dass er nicht tanzte, sagte Carla etwas in der Art von: »Hast du den Vogel gesehen, der gerade vorübergeflogen ist? Mein Geliebter, du solltest mehr aus dir hinaus in die Welt schauen. Vielleicht entdeckst du ja etwas ganz Neues.«
In jenem Sommer wurde Lucas gezeugt.
10
Alle vierzehn Tage besuchte Denise am Samstagmorgen das Grab ihrer Mutter. Es lag links vom Haupteingang des riesigen Friedhofs, bestand aus einem steinumfassten Beet, mit einem Kreuz aus Kalkstein an dessen Kopf. Denise ging, ihrem Turnus entsprechend, drei Wochen vor dem Karnevalsumzug ans Grab, im August, mit sorgsam ausgewählten Sommerblumen. Diesmal waren es Dahlien und Chrysanthemen. (Denise war nicht der gängigen Meinung, wonach Chrysanthemen als spießig galten.) Sie spülte zunächst die Vasen aus, entfernte mit einem Zweig eine Schnecke von der Grabeinfassung, wechselte die Blumen und reinigte Kreuz und Inschrift. (Toreth hatte darüber bestimmt: Carla Lillian Bruce, 1944 – 1974. Wir vermissen Dich, Gott segne Dich .) Im Anschluss setzte sich Denise auf die Steine und gab sich der Stille hin. Das Gras ringsum wurde viel zu selten gemäht. Die Halme reichten ihr fast bis ans Knie.
»Mir geht es, denke ich, gut«, sagte sie. »Aber um ihn mache ich mir Sorgen.«
Wenn sie ein Problem hatte, kam sie her und ließ es heraus. Wenn ein Baum im Wind rauschte oder die Sonne im richtigen Moment hinter einer Wolke hervorkam, brachte das Klarheit, manchmal sogar eine Lösung. Zwischen ihr und Lucas herrschte eine Pattsituation. Sie hatten seit vier Tagen nicht miteinander gesprochen. Er drückte aus Trotz die Zahnpastatube am selbstsüchtigen Ende aus, und Denise sagte nichts, weil sie den Brief ihrer Großmutter verbrannt und deswegen ein schlechtes Gewissen hatte. Das war doch richtig, oder?, fragte sie ihre Mutter im Geiste. Die Wahrheit würde ihn noch mehr aus dem Gleichgewicht bringen. Aber sie fragte sich trotzdem, wo das enden würde. Er kiffte Tag und Nacht, es machte keinen Unterschied mehr. Dabei musste doch sein ganzes Arbeitslosengeld draufgehen. Manchmal machte er sich nicht einmal mehr die Mühe, nach draußen zu gehen, und wenn sie nach Hause kam, roch die ganze Kajüte danach. Er widerte sie an, wenn er breit war. Sie widerte die Nutzlosigkeit an, die in seinen klebrigen rosa Augen stand, die unzusammenhängenden Worte, die schlaffen Arme. Er ging da einer gefährlichen Hoffnung in die Falle, wenn er jenseits seines Bewusstseins nach etwas suchte, was er andernorts nicht finden konnte, und sie war womöglich dafür verantwortlich, für die Alpträume und das verstörende Krächzen in den frühen Morgenstunden.
Die Sonne und der Wind hatten ihr nichts zu sagen. Denise wünschte sich, sie wäre nicht so alleine damit. Eine alte Wut stieg in ihr auf, sie haderte mit ihrem Schicksal.
Als Kind hatte Denise ihre Wut kanalisiert, indem sie in die Pflanzenwelt eintauchte. Vor Toreths Geschwafel war sie viele Stunden ans Ufer geflohen und hatte ihren Garten gehegt und gepflegt, sie hatte gepflanzt und gesät und mit einer sehnsüchtigen Hoffnung, etwas wachsen zu sehen, auf die Erde geschaut. Das tat sie auch heute noch. Denn könnte sie sehen, wie eine Pflanze wuchs, von alleine aufrecht stand und ihre Blüten öffnete – an der Vorstellung hielt sie nach wie vor fest –, wäre dies eine Versicherung ihrer eigenen Zukunft, ein Zeichen dafür, dass sie eines Tages von aller Last befreit wäre. Aber sie sah es nie. Wie sehr sie es auch herbeiwollte, die Pflanzen reagierten nie, zeigten nicht die kleinste Bewegung. Sie hatte damals gefolgert, dass dieses Wachstum geschah, wenn die Menschen schliefen, und so war sie eines Nachts mitten im Frühling, als Lucas und Toreth im Bett lagen, um halb elf ans Ufer gegangen, in der festen Absicht, falls es sein müsste, dort bis zum Morgengrauen auszuharren.
Den Friedhof im Rücken, brachte sie sich vor einer Reihe Tulpen in Position, ihren Lieblingsblumen. Sie war warm verpackt, unter ihr eine Decke, neben ihr eine Thermoskanne mit Tee, die Ausrüstung griffbereit (Taschenlampe, Lupe, Lineal, Notizbuch und Stift). Sie konzentrierte sich auf eine knospende weiße Tulpe. Es galt, keinen Moment zu versäumen. Wenn sie sich Tee einschenken wollte, musste sie trotzdem weiter hinschauen. Wenn ihr Hals steif wurde, bewegte sie den Kopf nach oben und
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