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Als würde ich fliegen

Als würde ich fliegen

Titel: Als würde ich fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Evans
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unten, nach rechts und nach links, die Blume immer im Blick. Irgendwann, nach etwa drei Stunden, dachte sie, sie sähe etwas, eine winzige Bewegung im Stiel, ein Geheimnis, den Hauch einer Ahnung. Die Tulpe richtete sich auf. Denise nahm Maß, aber die Differenz war so gering, dass sie unsicher wurde und die Blume daraufhin weiter beobachtete. Schließlich ging ihr auf, dass sie womöglich gar nicht sehen sollte , wie sich die Tulpe aufrichtete, und deshalb zweifelte sie, ob sie es wirklich gesehen hatte. Vielleicht hatte sie es nur gesehen, weil sie es sehen wollte, so wie Toreth immer sagte, wenn Lucas lächelte, würde Carla lächeln. Bei Morgengrauen befand sie, sie hatte gar nichts gesehen. Wachstum, stellte sie enttäuscht fest, war etwas Unsichtbares.
    Später, mit vierzehn, fand sie eine andere Möglichkeit, die Wut zu kanalisieren. Von einem wilden Verlangen nach Unabhängigkeit getrieben, wurde sie eine Minute lang kriminell und klaute einen Einkaufswagen. Dorthinein stellte sie Eimer mit ihren Eigenzüchtungen und schob den Wagen den Uferweg hinauf und um die Friedhofsmauern herum. Schließlich (es war Sonntag) kamen die Trauernden. Sie kauften Tulpen, Hyazinthen, Winterstiefmütterchen. Es war eiskalt, die vielen Stunden dort in der Kälte zu stehen, aber sie fühlte sich emanzipiert, befreit von Toreths Nutzlosigkeit, der Hausarbeit, von Lucas’ wachsender Abhängigkeit. Ihr wurde so kalt, ihr wäre beinahe das Gesicht abgefallen, aber als sie nach Hause kam, hatte sie zwanzig Pfund in der Tasche. In der folgenden Woche verdiente sie mehr. Sollte sich Toreth je aus der Wäscherei zurückziehen (und das würde sie bald), hatte Denise eine Möglichkeit gefunden, wie sie Essen auf den Tisch bringen konnte.
    Ihr berufliches Interesse an Flora und Fauna war von da an nicht mehr zu bremsen. Alles, was wuchs, wurde bei seinem lateinischen Namen genannt, so etwa Knoblauch. (»Ich glaub, ich habe zu viel Allium sativum in die Sauce getan.«) Wenn es Lucas nicht gut ging, zwang sie ihn, faulig riechende Mixturen zu trinken. (Als er die Windpocken hatte, flößte sie ihm ein Ringelblumengebräu ein, mit dem man angeblich, und angeblich erfolgreich, die Pest bekämpft hatte.) Sie legte sich auch eine Mentorin zu, per Brieffreundschaft, Harriet, eine pensionierte Schriftsteller-Floristin aus Carlisle. Dies geschah im Rahmen einer Schulaufgabe, bei der sich ihre Klassenkameraden sämtlich für Sportler, Moderatoren oder angesagte Modedesigner entschieden. Sie korrespondierte regelmäßig mit Harriet über das unsichtbare Wachstum, über Pflanzennahrung und die medizinischen Eigenschaften von Rosen und Mimosen. Ihr Briefverkehr nahm einen philosophischen Ton an. Wenn Denise unter der Verantwortung litt, die Hüterin ihres Bruders zu sein, äußerte sie es Harriet gegenüber in einer Sprache, die sie beide verstanden. »Natürlich sollte man während der Wintermonate darauf achten, die Farbe der Büsche zu erhalten, doch man muss ja auch noch so viel harken und schneiden und planen und düngen. Manchmal wünschte ich, der Garten würde sich um sich selbst kümmern.«
    Denise ging erst jetzt auf, als ihr Blick den Namen ihrer Mutter streifte, dass Lucas keinen Weg hatte, seine Sorgen zu kanalisieren. Er hatte nichts Festes, keinen Bezugspunkt. Vielleicht wäre er immer an diesen Punkt gelangt, an dem er die Notwendigkeit spürte, nach etwas zu suchen, etwas, woran er sich festhalten konnte. Wäre es ihm jetzt eine Hilfe?, fragte sie sich und ärgerte sich, dass der blaue Luftpostumschlag wieder vor ihrem geistigen Auge erschien. Würde ihn die Wahrheit voranbringen? Wie schlimm könnte es werden? Schlimmer als jetzt schon? Oder als es im nächsten Monat noch würde?
    Aber nein. Es war vorbei. Tot, begraben, verbrannt, und dabei würde sie es belassen. Sie erhob sich. Auf ihr lastete das gleiche Gewicht, mit dem sie sich hingesetzt hatte, eine Erschöpfung, die sie niemals verlassen, die sie nach Hause begleiten würde, zu einer weiteren krächzenden Nacht, einer weiteren verdrießlichen Woche.
    Bevor sie den Friedhof verließ, prüfte sie immer den Zustand des Grabs, um zu schauen, ob es Dinge gab, um die sie sich beim nächsten Besuch kümmern musste, eine gesprungene Vase oder eingefressener Schmutz. Erst da merkte sie, dass etwas anders war.
    Im April hatte Denise in das Beet vor dem Kreuz Orchideenzwiebeln gesetzt. Sie ergänzte die Schnittblumen immer mit richtigen Pflanzen, damit man sah, dass das Leben irgendwie

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