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Als würde ich fliegen

Als würde ich fliegen

Titel: Als würde ich fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Evans
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das?«
    »Ja«, sagte er.
    Sie machte eine Pause, und ein trauriger Zug glitt über ihren Mund. »Vor allem aber«, schloss sie, »darfst du nie Angst haben oder von deinem Weg abweichen.«
    Sie saßen und sprachen sehr lange auf der Truhe, bis es schien, als wären sie allein. Katherine erzählte ihm, dass sie vor vielen Jahren nach Jamaika gekommen sei, um dort zu forschen, und eine Zeit lang in Accompong gelebt habe, einem Maroon-Dorf im Cockpit Country. Sie war auch auf Haiti, Kuba und Martinique gewesen, und von dort, so stellte sich heraus, stammte der Kampftanz der Männer, der Antoney, wie er ihr erzählte, so besonders gut gefallen hatte. Sie war an so vielen Orten gewesen, sagte sie, hatte so viele verschiedene Tanzstile gesehen, dass sie das Gefühl habe, sie bräuchte noch ein ganzes Leben, um all das zu verarbeiten und um noch mehr zu sehen und zu sammeln. Antoney hing an ihren Lippen, und eine zweite wichtige Frage kam in ihm auf.
    »Miss Dunham«, wagte er sich vor, »wer ist Shango?«
    »Shango? Hat dir Shango gefallen? Das gefällt nämlich vielen.«
    Shango, erklärte sie, war ein sehr mächtiger Gott, ein Orisha aus der Yoruba-Folklore, der immer noch Anhänger auf der ganzen Welt hatte, in Kuba, Haiti und Brasilien. Ursprünglich war er eine Erdgottheit, doch eines Tages hatte sein Volk genug von ihm, und deshalb war er in den Himmel aufgestiegen und wurde zum Gott des Donners und des Blitzes. Während der Sklaverei waren den Afrikanern ihre Religionen verboten, und darum maskierten sie ihre Götter als katholische Heilige – Shango wurde zu Johannes dem Täufer. Er war wild und entschlossen, mit eisernem Willen. Rot war seine Farbe, und er trug eine doppelköpfige Axt, die seinem wilden, bedrohlichen Tanz Ausdruck verlieh. Mit so jemandem, sagte Katherine, legte man sich nicht an.
    »Also lebt er noch?«
    »Oh ja, aber gewiss«, lachte sie. »Das sagen zumindest manche, anderen wiederum ist er gleichgültig.«
    Mittlerweile saßen sie sehr eng beieinander. Antoney nahm die anderen nicht mehr wahr, nicht einmal Mr. Rogers. Katherine drückte eine Hand gegen das untere Ende seiner Wirbelsäule, legte die andere unter sein Kinn und hob es an. »Mögest du Wolken berühren«, sagte sie. »Aufrecht und groß werden. Oh ja. Kein Zweifel, du wirst eines Tages sehr, sehr stark.«
    Und Antoney, in seinem roten Hemd, wusste, dass sie recht hatte. Sie ergänzte, schon beinahe flüsternd: »Ich glaube, du wirst ein großartiger Shango.«
    Entlang der zwei Meilen von Annotto Bay reihten sich vierzehn Kirchen auf, deren älteste die rote Backsteinkirche der Baptisten auf der Main Street war, die 1831 während der Weihnachtsrebellion von Sklaven zerstört wurde. Bei ihrem Wiederaufbau waren farbige Glasfenster von Hand gefertigt und Bibelzitate auf die gelbe Leiste an der Wand geschrieben worden. Ein braunhaariger, blauäugiger Jesus schaute hinab auf seine Jünger, die sämtlich der Meinung waren, es sei höchste Zeit, dass Florence und Mr. Rogers getraut würden.
    Sie machten sich bereit, die Gläubigen. Ihre Häuser summten und brummten, und überall roch es nach Jerk und Gewürzen. Antoney erhielt letzte Anweisungen. »Kein Hüpfen, kein Laufen und kein Tänzeln . Du gehst langsam den Gang hinter mir und Mr. Rogers her, verstanden?«
    »Ja, Mama.«
    Sie schlüpfte in Tante Ivys Kleid, das an den Hüften immer noch ein wenig locker saß. Antoney stellte sich hinter sie und zog den Reißverschluss zu. Sie verweilten vor dem Spiegel. »Du siehst schön aus, Mama«, sagte er.
    Er trug die dunkelblaue Hose, die er an Katherines Tag getragen hatte, diesmal mit einem steifen, frisch gebügelten weißen Hemd. Mr. Rogers war bei seinem Freund Martin und machte sich dort zurecht. Sie hatten verabredet, sich vor der Kirche zu treffen.
    Auf dem Heimweg von Kingston, an Katherines Abend, hatte Mr. Rogers den Arm auf dem Rücksitz eines anderen, leeren Busses (es war der Rat Attack) um Antoney gelegt. Sie hatten den ganzen Bus für sich, Mr. Rogers hatte einen befreundeten Busfahrer gefunden, der in ihre Richtung fuhr und sie ohne Murren mitten in der Nacht in St. Mary absetzte. Sie kurvten Runde um Runde, die Berge hinauf und hinab. Hinter den Fenstern war nichts zu sehen, nur die Nacht und ein milchiger Halbmond, der verschwand und wiederkam. Sie sprachen über Mr. Rogers’ Mutter, und über sie sprach Mr. Rogers selten, denn es ging ihr nicht so gut. Manchmal aber sprach er über Kuba, erwähnte knappe, geografische

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