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Als würde ich fliegen

Als würde ich fliegen

Titel: Als würde ich fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Evans
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Details, zum Beispiel Schatten, man könne, so sagte er dann, vom einen Ende der Insel zum anderen unter dem Schattendach von Bäumen hergehen, oder Entfernungen, man könne, wenn man in einer klaren Nacht an Kubas Ufer stand und hinaus auf die See schaute, die Lichter von Jamaika sehen.
    Aber in dieser Nacht wollte Mr. Rogers über seine Mutter sprechen. Sie sei eine stille und katzenhafte Lady. »Was meinst du damit?«, fragte Antoney. Dass sie wie eine Katze sei, sagte Mr. Rogers. Sie bewegte sich so sanft, sie war kaum mehr als ein Hauch. Sie hatte eine Weile in Havanna gelebt, in Kubas Westen, nun aber lebte sie in ihrer Heimatstadt Baracoa. Keine Straße führte dorthin. Man kam nicht mit dem Bus dorthin. Der Ort war von der Welt abgeschnitten, umgeben von Bergen und einem Meer voller Haie. Mr. Rogers sprach leise und zögernd. Diesen Tonfall hatte Antoney noch nie gehört. Sein Vater erzählte ihm, dass er sich nicht mehr an die Stimme seiner Mutter erinnern könne, weil ihre Stimme so sanft gewesen sei, aber auch, weil sie ihre Stimme so selten gebrauchte. Als sie in Havanna gelebt hatte, hatte sie sich in einen Seemann verliebt. Der Seemann aber hatte die See geliebt. Wenn er Segel setzte, wartete Mr. Rogers’ Mutter am Malecón, der Uferstraße von Havanna, und ging dort auf und ab. Doch eines Tages blieb ihr Warten vergebens. Sie ging am Malecón auf und ab, sieben Tage lang, in einem langen Rock und alten Schuhen und hielt nach ihrer Liebe Ausschau. Sie trug sein Kind unter dem Herzen. Jeden Tag war sie dort, bis die Sonne sank und die Nachttiere aufflogen, und am siebten Tag setzte sie sich auf die Ufermauer und zog sich die Schuhe aus …
    Hier verstummte Mr. Rogers. Antoney war dem Schlaf nahe und wartete mit seiner Großmutter auf den Seemann. Als er merkte, dass Mr. Rogers nicht mehr sprach, oder er ihn nicht mehr hören konnte, war es schon zu spät. Er lag mit seiner Großmutter auf der bleichen Mauer, dann schlossen sie die Augen und trieben fort ins Meer.
    Florence und Antoney trafen um elf an der Kirche ein. Florence, mit einer Blume am Hut, hielt ihren Orchideenstrauß in der einen, den Rock in der anderen Hand. Sie stiegen die beiden kreisförmigen Stufen zur Tür hinauf. Im Innern sammelte sich die Gemeinde, fächelte sich Luft zu, glättete Kinderröcke, sicherte sich die besten Plätze und besprach die verheißungsvolle Zukunft der Familie Rogers. Antoney fand die Kirche beunruhigend. In ihren Mauern wurde aufgesprungen, geblinzelt, geweint, geklagt, geklatscht, hier hatte sich Tante Ivy verloren, und ein entsetzliches Gefühl überkam ihn angesichts der wartenden Menge. Da war auch schon Tante Ivy, am Eingang, und schloss Florence in die Arme. Ganz Annotto Bay, von hier bis Boot and Stocking Bridge, wartete im Sonntagsstaat. Auch das glänzende Holzkreuz, auf das seine Mutter und Mr. Rogers zugehen würden, wartete. Irgendjemand wärmte sich am Tamburin auf. Antoney wandte sich um und stellte sich nach draußen auf die Stufe. Er steckte die Hände in die Taschen und sah, wie sich eine dichte graue Wolke auf die Sonne zubewegte.
    Hinter ihm sagte seine Mutter: »Antoney, komm her zu mir. Deine Tante will mit dir sprechen.«
    Als Antoney neben Florence stand, nickte und nicht wirklich lauschte, malte er sich aus, wie sein Vater über die Main Street und zur Kirche ging. Er trug seine schwarzen Schuhe und ein weißes Hemd, genau wie Antoneys. Die Blume an seinem Hut war gelb. Er musste jeden Augenblick zu sehen sein. Dann würde er am Fuße der Stufen stehen und mit ganz neuer Bereitschaft in das Gesicht seiner baldigen Ehefrau blicken. »Florence«, würde er sagen, »du bist hinreißend, schöner, als wenn du siebzehn wärst.« Dann würde er zu ihr eilen, ihren Arm nehmen, und sie würden den Gang zum Altar beginnen. Es war ganz einfach.
    »Siehst du deinen Vater?«, fragte Florence.
    Er trat wieder hinaus auf die Stufen. Er blickte die Main Street auf und ab und kehrte nach innen zurück. »Nein, Mama.«
    Sie lächelte. In ihrem Blick lag nur ein Hauch von Sorge.
    »Ich hab ihm gesagt, er soll bloß pünktlich sein.«
    Sie führte das Gespräch mit ihrer älteren Schwester fort, obwohl sie immer weniger zu sagen wusste und immer häufiger zur offenen Tür schaute. Antoney blieb dicht hinter ihr, ein Fuß in, ein Fuß außerhalb der Kirche.
    Als immer mehr Zeit verstrich, rückte auch Florence näher zur Tür. Ihre Miene verdüsterte sich, und sie entzog sich der Unterhaltung. Sie fragte

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