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Als würde ich fliegen

Als würde ich fliegen

Titel: Als würde ich fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Evans
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– er hatte es sich ermöglicht. Wenn ihr öfter glauben würdet, was ihr nicht seht, sagte Oscar gerne, kämt ihr im Leben weiter.
    Oscar hatte zum ersten Mal in seiner Heimatstadt Mandeville in den USA von Nijinsky gehört, als Tanzschüler, und daraufhin begonnen, Fotografien von ihm zu sammeln. Sie hatten Oscar auf seinen vielen Reisen durch Europa und Lateinamerika begleitet und reihten sich nun entlang der Wände seiner Schule auf (die fast schon die Bezeichnung Kommune verdiente, auch wenn die meisten einfach nur »bei Oscar« sagten). Die Mehrzahl der Bilder hing im Eingangsbereich, im Vorzimmer der winzigen Küche, in Oscars vollgestopftem Büro und im Tanzstudio. Dort standen auch die beiden alten Ledersofas, die selten ungenutzt blieben, und ein abgewetzter Teppich lag dort auch, den Oscar nicht mehr reinigte, weil das Leben kurz war. Auf einer der Fotografien machte Nijinsky einen spielerischen Seitwärtshüpfer, den Kopf nach hinten geworfen. Auf einer anderen saß er am Klavier und studierte eine Partitur. Es gab Nijinsky in Scheherazade , mit Ohrringen und Turban, und Nijinsky in Giselle . Eines von Oscars Lieblingsbildern zeigte den noch sehr jungen, schönäugigen Nijinsky (1911 oder 1912), mit hohem weißem Hemdkragen und Mittelscheitel. Hier sah man deutlich die ausgeprägten Wangenknochen, die schrägen, traurigen Augen und den schlauen Mund. Er blickte sanft und trotzig in die Welt.
    Aber im Vorraum, über der Küchentür (Oscar erinnerte sich nicht mehr, warum er das Foto gerade dort aufgehangen hatte – vermutlich, weil er es nicht gerne ansah) gab es einen weiteren Nijinsky, und dieser war scheußlich und so ganz anders als die übrigen. Er war für Michel Fokines Puppen-Ballett Petruschka kostümiert. Das Gesicht, zu einer verzerrten, jämmerlichen Grimasse verfallen, war dick gepudert, darunter trug er eine riesengroße weiße Halskrause. Das Foto war während seiner aktiven Jahre entstanden, und doch erzählte es schon von dem, was im Anschluss geschehen sollte. Bei diesem Thema verweilte Oscar nicht so gerne, obwohl es ihm wichtig war, dass es nicht in Vergessenheit geriet.
    Doch es gab auch andere Porträts. Isadora Duncan, die einst die Ballerinas vom Spitzentanz befreit hatte. Josephine Baker mit ihrem Bananenröckchen in Paris. Gene Kelly, Tamara Karsavina, Martha Graham, José Greco. Oscar selbst als lockiger, junger Mann in Shorts, mit seiner Truppe Six Eight vor einem Seerosenteich in Hampstead Heath. Sie hatten, so resümierte Oscar, damals sehr wohl einen Beitrag zu einem freieren Tanz geleistet. Ihr Stil war kühn und eklektisch gewesen. Sie hatten an den Konventionen der Aufführungspraxis gerüttelt und den Tanz von der Bühne in den Zuschauerraum verlagert. Sie waren keine Isadoras und auch nie berühmt, aber ihren Beitrag hatten sie geleistet.
    Nachdem er sich in London niedergelassen hatte, hatte Oscar eine Weile bei Marie Rambert in Notting Hill Ballett studiert und dann seine eigene Truppe gegründet. Als sich Six Eight auflöste, verlegte er sich auf den Unterricht und wählte zu diesem Zweck das Souterrain einer verlassenen Kirche in einer Nebenstraße der Portobello Road. Legal war das nicht – nichts war hier legal. Gelegentlich trafen auch Briefe vom Royal Borough of Kensington and Chelsea ein und drohten mit der Zwangsräumung, doch es geschah nie etwas. St. Bernard war ein großes, schmuckloses Gebäude mit bröckelndem Mauerwerk, gotisierenden Fenstern und einer Holztür mit aufwendiger Schnitzerei, die Oscar bei seinem ersten Besuch an Notre-Dame in Paris erinnert hatte. Rechter Hand des betürmten Schiffes, wo Jesus an einem farbigen Glaskreuz siechte und die dunklen Bänke fest und unverrückbar standen, lag eine günstig dimensionierte Halle, direkt über Oscars Studio. Niemand schien zu bemerken, dass die Schule dort allmählich Wurzeln schlug, die Böden zum Schutz der bloßen Füße glatt geschrubbt und wandhohe Spiegel angebracht wurden. Niemand bemerkte, dass Oscar am Tag nach dem Tornado, noch unter Schock, mit seinen verbleibenden Besitztümern – erstaunlicherweise war seine Brille darunter – die Stufen hinabstieg und sich inmitten des geräumigen Studios auf den Rücken legte und von Tigern träumte (es war ein sanfter Traum, er lag in seinem alten Bett, das Zimmer hatte keine Decke, und neben ihm hatten sich bedächtig vier Tiger niedergelassen). Auch bemerkte niemand, dass Oscar nach diesem Traum Nacht für Nacht im Souterrain der Kirche blieb,

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