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Als würde ich fliegen

Als würde ich fliegen

Titel: Als würde ich fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Evans
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und als es schließlich jemand bemerkte, war es schon die Aufgabe der Bürokratie, ihn zu vertreiben. In gewissen Situationen erweist sich Bürokratie als etwas Wundervolles.
    Der Tornado, so hatte Oscar in seiner ersten Nacht auf dem Boden des Studios beschlossen, war eine Mahnung. Um seiner selbst war er entbehrlich, er war nur der Spielball aberwitziger Wetterlaunen. Von nun an würde er sein Leben den Jüngeren widmen, denen, die tanzen, groß und frei sein wollten.
    Nun, acht Jahre später, verspürte er die ersten Anflüge von Rheuma, einen morgendlichen Schmerz in den Beinen und im Kreuz. Im Winter war es in der zugigen Kirche eiskalt, so kalt, dass die wärmeren Monate bei der Erinnerung an den Winter abkühlten, und so hüllte er sich stets in einen Pullover, manchmal auch in eine Decke. Als letzte abendliche Handlung, wenn die Jungen alle fort waren, wenn sie sich wie der Regen in den Ladbroke Grove und die benachbarten Viertel ergossen, schlang Oscar seine karierte Decke um sich und trat hinaus in den Hinterhof, um seine eine Zigarette zu rauchen. Das war meist gegen zwei Uhr morgens. Er betrachtete die Sterne und genoss sein Nikotin, dachte über den Tag, die Fortschritte eines Schülers oder eine neue Bewegungsfolge nach. Wenn das geschehen war, ging er widerstrebend zurück ins Innere.
    Als er eingezogen war, hatte er zunächst im Büro geschlafen. Dort gab es eine schmale Matratze und gerade genügend Platz auf dem Boden neben dem Schreibtisch. Schlaf jedoch fand er dort schwer. Er misstraute Betten mit ihrer berechenbaren Behaglichkeit. Seine Schlaflosigkeit, so stellte er fest, ließ sich durch ein etwas unkonventionelleres Arrangement besänftigen. Jede Nacht, nach seiner Zigarette, ging er in das Studio und schloss die Tür. Dann stellte er zwei Seitpferde im richtigen Abstand zueinander auf, legte ein langes Sperrholzbrett darauf, darauf wiederum ein Kissen, und dort legte er sich mit seiner Decke nieder. Der Schlaf kam spät. Er währte nie länger als drei Stunden. Der Morgen glitt kühl und weiß von den hohen Fenstern hinab, und wenn Oscar aufstand, sah er sich in den Spiegeln, kahl, fast schon alt, mühevoll sich aufrichtend. Für Tänzer besteht der größte Verrat in der Sterblichkeit ihres Körpers. Jeden Morgen staunte Oscar in den Spiegeln vor sich selbst.
    Wenn es im London von 1962 einen Ort gab, der ein derartiges soziales Unternehmen benötigte, dann war es Ladbroke Grove. Außerhalb von Oscars Wänden lagen slumartige Behausungen, Müllberge, Reviergrenzen. Die Kirche, hinter einem umzäunten Hof an der Kreuzung Talbot Road und Powis Square versteckt, befand sich im Herzen eines der ärmsten und verwahrlosesten Stadtviertel, dessen bevorstehender Aufstieg zu Glamour und Reichtum kaum zu erahnen war. In diese Gegend kam niemand, der einen psychedelischen Toaster oder eine Gießkanne aus Leder suchte. Hier nahm sich niemand die Zeit für einen Auberginen-Tee. Dies war eine ferne, vereinzelte Gegend. Sie zerfiel unter dem Ruß der Kohleöfen. Ratten und Mäuse suchten die Straßen heim und taten sich an den Schuttbergen gütlich, die ihnen die Kräne des Jahres ’58 hinterlassen hatten, als man weite Teile des Grove niedergewalzt hatte, um Platz für kastige Sozialbauten zu schaffen. Es waren apokalyptische Szenerien, die den Bewohnern, auch Toreth mit ihren Einkäufen, wie die Bilder erschienen, die sie im Zweiten Weltkrieg gesehen hatten. Die fünfgeschossigen Reihenhäuser, die über den Colville Square blickten, ahnten noch nichts von ihrer Bonbonzukunft. Noch waren es die unruhigen Unterkünfte zu vieler Familien, die sich mit lecken Dächern, kriechender Feuchtigkeit und »Keep Britain White«-Graffiti herumschlagen mussten. Die Nähe zum West End hatte aus dem Viertel einen Abenteuerspielplatz für die Ausreißer, Halunken und Nachtschwärmer Sohos gemacht, die im Verband mit den örtlichen Kleinganoven und Feierwütigen in die galligen Pubs, Spelunken und Spielhöllen rings um die Westbourne Park Road und Portobello einfielen. Noch lehnten entlang der nahe gelegenen Bayswater Road die Prostituierten klamm am Gitter des Hyde Park und zogen die Röcke hoch, wenn ein Auto langsamer fuhr. Es war eine Gegend, die Ja sagte, wenn man von fern her kam, mit Löchern in den Taschen, Kindern am Hals, oder wenn man das Meer in seinem besten Kostüm, einem blau befederten Kingston-Hut und mit großen Erwartungen überquert hatte. Wenn irgendwo, so konnte man dort auf Aufnahme hoffen, wenn

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