Als würde ich fliegen
einen hohlen Baumstamm hinaufsingen würden; man hörte das Atemholen des Flötisten). Oscar hatte Musik ganz unterschiedlicher Art. Er besaß Hunderte Bänder, sie türmten sich bei seinem Schreibtisch auf, in seinem Büro stand eine regelrechte Stadt aus Felix Baloy, Keely Smith und Igor Stravinsky (der, so erfuhr Antoney von Oscar, gemeinsam mit Nijinsky an einem skandalumwitterten Ballett gearbeitet hatte). Bei Oscar war die Musik wie das Wetter, wechselhaft, aber allgegenwärtig, die Herrscherin über alles und jeden. »Die Musik«, sagte Oscar, »und das gilt sogar, wenn es still ist – denn in der Stille ist Musik –, erweckt den Körper. Sie ist eure Wunderlampe, euer Geist. Sie ist der Dornröschenkuss.«
Je häufiger Antoney tanzte, umso häufiger wollte er tanzen. Es war wie in seinem Flugtraum, wenn sie alle gemeinsam über den Boden glitten. Die Tänzer sahen so hinreißend aus, wenn sie den Kopf in den Nacken warfen, eine Hand flach auf das Kreuz gelegt, die entsprechende Schulter nach hinten drückten und aufrecht und stolz voranschritten. Anders als er, besser als er, irgendwie vorsätzlicher. Wenn er sich im Spiegel erblickte, schrumpfte sein Selbstbewusstsein. Er wirkte so unbeholfen, wie eine Karikatur seiner selbst. Ekow hingegen gab allem Gestalt, er konnte sich eine Phrase so aneignen, dass es schien, als wäre sie geradezu für ihn gemacht, als sollte sie genau so getanzt, so sauber ausgeführt werden. Antoney fiel auf, dass er Ekow immer häufiger imitierte, anstatt nach seinem eigenen Ausdruck zu suchen, und wenn er sich dann wieder im Spiegel sah, das Zerrbild der Nachahmung, der Arm zu weit ausgestreckt, die Schultern zu angespannt, wurde er noch verzagter, noch unbeholfener. In solchen Momenten hätte er das Tanzen am liebsten aufgegeben. Ekow wurde zu einem guten Freund, aber gegen die Eifersucht war Antoney machtlos.
Aus Oscars Sicht ragte Antoney, ließ man dieses Ringen mit seiner Befangenheit außen vor, als der potenziell beste Schüler heraus. Eines Abends unterbrach der Lehrer seine Klasse mitten während der Stunde und rief alle zu sich: »Alle mal herkommen, ihr Tänzer, alle mal herkommen.« Er zog seinen dreibeinigen Hocker in die Mitte der Tanzfläche. Obwohl es im Studio vom Tanzen warm geworden war, lag der Pullover über seinen Schultern. Die Schüler setzten sich im Halbkreis vor ihn, einige lagen auf dem Bauch, andere saßen aufrecht, die Beine gespreizt, zwölf oder dreizehn an der Zahl. In solchen Momenten erinnerten sie Oscar an die Tiger.
»Heute möchte ich über frühere Zeiten reden«, setzte er an, »weil einige von euch diese Zeit ganz offenbar vergessen haben.« Er überflog die Gesichter, verweilte einige Augenblicke bei Antoney, der hinter Simone und Carla saß, am Rand der Gruppe. »Über früher«, sagte er. »Über damals. Als wir noch jung waren. Und zwar richtig jung, nicht so wie ihr oder ich – schließlich bin ich, wie wir alle wissen, gerade vierzig.« Einige Tänzer kicherten. »Aber jetzt mal ernsthaft, wisst ihr noch, wie es früher war? Wir waren frei und ungezügelt, genau das waren wir. Wisst ihr es nicht mehr? Waren wir nicht wild, mit fünf oder zwei oder sieben? Also, ich ja. Ich hatte den Kopf voller Flausen. Ich war fest davon überzeugt, Regenbogen wären das Werk von Feen und Nussschalen ihre Kutschen.«
»Ich bin mir nicht sicher, wann genau das zu Ende geht«, fuhr Oscar fort. »Es kommt wohl darauf an, was aus uns gemacht wird. Aber alles entwickelt sich langsam auf den Punkt zu, an dem es zu Ende ist, und das ist furchtbar, furchtbar für uns alle. Wir werden größer, lernen, wie wir uns benehmen sollen, was Pflicht und Verantwortung, Gefahr und Schmerz bedeuten. Ich war immer der Meinung, dass das Heranwachsen an sich keine Schwierigkeit darstellt. Es wird nur zu einer, weil es mit einem Leben voller Beschränkung einhergeht. Worauf ich hinauswill, ist Folgendes.« Er beugte sich vor, ein Ellbogen auf das Knie gestützt, wie ein weiser Großvater, der seine Nachkömmlinge um sich schart. »Beim Tanzen«, sagte er, »können wir zu diesem Zustand der Freiheit und Ungezügeltheit zurückkehren. Vermutlich ist das sogar der einzige Weg zurück zu unserem einstigen Selbst, bevor wir zu dem gemacht wurden, was wir sind. Es ist noch alles da, es wartet auf euch, aber nur unter einer Bedingung – und das gilt für euch alle.« Jetzt schaute er Antoney direkt an und sagte sehr ernst: »Ihr müsst bereit sein, auf den Spielplatz zu
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