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Als würde ich fliegen

Als würde ich fliegen

Titel: Als würde ich fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Evans
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gehen. Ihr müsst den Mut finden, euch zu verlieren .«
    Im Raum herrschte Stille. Oscar erhob sich. »Also. Wo wir schon derart nostalgischer Stimmung sind, werden wir uns während der verbleibenden Zeit am Nijinsky-Sprung versuchen.«
    Einer nach dem anderen standen die Tänzer auf. Sie begannen zu springen. Wilde, hohe Mutmaßungen, unbeholfene Landungen. Oscar erklärte zwar, die Beinmuskulatur und die Kontrolle über den Atem während der Kehre spielten eine wichtige Rolle, aber im Moment sei das nicht so wichtig, sagte er, lasst einfach los. Es ging nur um die Höhe. Wer kam bis ans Fenster, wer blieb am längsten dort oben, wer konnte lang und hoch zugleich springen. Sie rannten in ihre Sprünge hinein und hielten die Beine in albernen Posen. Sie kreischten und stolperten. Oscar brüllte und lachte und warf seinen Pullover zu Boden. »Nein nein nein , Ekow, er ist höher gestiegen – bevor er wieder gelandet ist, ist er höher gestiegen!« »Was hat eigentlich«, fragte Antoney seinen Lehrer einige Abende später, »Nijinsky zum größten Tänzer aller Zeiten gemacht?«
    Das Souterrain war verlassen, bis auf sie beide. Sie lagen auf den Sofas im Vorraum, die Fotografien schauten auf sie hinab – das gepuderte Petruschka-Gesicht, das Androgyne, die wunderschönen sanft-weißen Beine. Antoney war bei den lärmenden abendlichen Zusammenkünften ziemlich zurückhaltend, aber wenn er mit Oscar allein war, zeigte er sich wissbegierig und völlig entspannt. Und Oscar war immer gesprächiger Stimmung, wenn es um Nijinsky ging.
    »Das habe ich mich auch oft gefragt«, sagte er. »Sicher der Sprung, zum Teil jedenfalls, seine ungezügelte Energie. Aber das lag wohl auch an dem, was dahintersteckte, an dem Menschen Vaslav. Als Kind war er praktisch stumm. Er hat kaum einen zusammenhängenden Satz herausgebracht.«
    »Also …«
    »Also war das entscheidend, glaubst du nicht auch? … Er musste tanzen. Das war seine einzige Möglichkeit, sich wirklich zu äußern, und darum hat er sich dem Tanz so völlig hingegeben. Es hat ihm den Antrieb verliehen. Gewiss, Nijinsky hatte einen wunderbaren Körper und ein interessantes Gesicht und all das, und natürlich macht es einen Unterschied, ob sich die Leute nach einem umdrehen oder nicht. Aber es war wohl vor allem die Dringlichkeit , die Nijinsky so groß gemacht hat – und die Tatsache, dass wir ihn niemals wieder auf einer Bühne sehen werden.«
    Antoney fragte, ob er verheiratet gewesen sei. Oscar bejahte, mit einer ungarischen Schönheit namens Romola, einem Mädchen aus gutem Hause. Oscar sprach oft über Nijinsky, als hätten sie sich persönlich gekannt. »Ich glaube aber nicht, dass ihm das gut bekommen ist. Ich glaube übrigens prinzipiell nicht, dass die Ehe irgendjemandem gut bekommt.« Als Antoney nachfragte, was er denn damit sagen wolle, erklärte er: »Es beschränkt die Perspektive, wenn man sich in ein Leben mit einer einzigen Person einrichtet. Man verlangt nach weniger, geht weniger Risiken ein. Für Künstler ist das gefährlich. Sieh dir Vaslav an – erst die Heirat, dann der Rausschmiss, dann der Wahnsinn.«
    »Willst du damit sagen, Romola hat ihn in den Wahnsinn getrieben?«
    »Nicht nur sie, sicher auch seine Schwiegermutter, sein Direktor, finanzielle Sorgen, der Krieg, er selbst. Da kommt vieles zusammen, und ich glaube, dass eine derartige Größe leicht an einen Abgrund führt. Während des Kriegs hatte er sich mit Romola in eine Villa an einem See in der Schweiz zurückgezogen. Vaslav hat jeden Morgen seine Übungen gemacht, mit seinen Kindern gespielt – eine Zeit lang war er da glücklich, inmitten der Berge, des glitzernden Schnees. Aber seine Bühnenkarriere war zu diesem Zeitpunkt schon so gut wie vorbei. Und das wusste er. Er hatte keine regelmäßigen Proben, Aufführungen, Tourneen, nichts, woran sich sein Geist festhalten konnte. Wahrscheinlich hat er sich einfach … aufgelöst.« Oscar sah hinüber zum Büro, zu seinen Büchern, blieb dann aber sitzen. »In den Monaten, bevor er weggeschlossen wurde, hat Vaslav Tagebuch geführt. Ich leih es dir mal. Wenn man das liest, ist man direkt bei ihm, mitten in seinem Kopf. Es waren seine letzten freien Worte, denn während der folgenden dreißig Jahre war er überwiegend in psychiatrischen Einrichtungen. Er hat so ziemlich jede Therapie mitgemacht, die es gab, Zwangsjacke, Eisenbett, Insulin, Opium, was auch immer, bis er nur noch eine seltsame, monströse Kreatur war, mit einem Gegacker,

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