Als würde ich fliegen
das kleine Mädchen um den Schlaf bringen würde.«
In Annotto Bay hatte es auch so jemanden gegeben, eine Irre, aber weggeschlossen hatte man sie nie. Sie lebte in einer Hütte am Strand, und Gerüchten zufolge hatte sie ihren Mann umgebracht. Alle sagten, dass sie irre sei. Und das mit solcher Überzeugung, dass das Gerücht allgemein als Tatsache galt. Florence behauptete das, Tante Ivy, sogar der Reverend, der einmal die Stirn der Frau berührt und mit Weihwasser benetzt hatte, als sie in einem zerfetzten Rock, betend und singend, in der Kirche erschienen war. Die arme verirrte Seele, hatte der Reverend gesagt. Antoney hatte sich immer gefragt, was das hieß, eine verirrte Seele zu sein. Hatte es einen Moment gegeben, an dem dieser Frau (sie hieß Jennifer Gates) bewusst war, dass sie irre wurde? Einen eindeutigen Wendepunkt zwischen verrückt und nicht verrückt? Und, falls ja, wie sah der aus? Denn wenn man sich an den genauen Ort erinnern konnte, an dem man den Kopf verloren hatte, die genaue Adresse, den Rückweg, müsste es doch möglich sein, so glaubte Antoney, sich wieder zu entirren. Er hatte sogar einmal versucht, mit Florence darüber zu sprechen, aber sie hatte die Stirn gerunzelt – das ist eine seltsame Frage, Antoney, hatte sie entgegnet. Mit solchen Gedanken sollte man seine kostbare Zeit nicht verschwenden.
Nun trug er Oscar seine Theorie vor. Wenn Nijinsky womöglich in der Lage gewesen wäre, sich an den Rückweg zu erinnern, an seine »Adresse«, hätte er sich unter Umständen retten können. Schon möglich, sagte Oscar, aber vielleicht liegt es gerade im Wesen des Irrsinns, dass man sich nicht erinnern kann.
»Jedenfalls«, sagte Antoney, »werde ich nie so gut wie er. Ich hab viel zu spät angefangen.«
»Warten wir’s doch einfach ab«, erwiderte Oscar.
Er hatte die Beine angezogen und sich die Decke unter die Knie geschoben. Eine Gesichtshälfte wurde von Licht beschienen, von der nackten Glühbirne, die in der Küche hing. Die Haut am Kiefer war lose, die Nase markant. Oscars Brille lag auf der Lehne. Sie sagten kein Wort, bis Antoney fragte: »Fühlst du dich hier eigentlich nie einsam, Oscar, so ganz allein?«
»Ich komme zurecht … Mir behagt es.«
Er warf Antoney einen raschen Blick zu, als ob er etwas mit sich aushandeln würde.
»Ich war auch einmal verheiratet«, sagte er. »Kaum zu glauben, ich weiß. Mir kommt es ja selbst vor, als wäre das in einem anderen Jahrhundert gewesen.« Er sprach langsam, ohne jegliche Spur von Wehmut. »Sie hatte wundervolles, langes, fantastisches blondes Haar. Sie war wirklich eine Augenweide und an mich eigentlich völlig verschwendet. Ich habe sieben Jahre mit ihr zusammengelebt, und während der ganzen Zeit, Antoney, habe ich mich nicht wie ich selbst gefühlt. Es hat mich nicht glücklich gemacht. Langsam, aber sicher habe ich begriffen, was es heißt, mit jemandem zusammen zu sein, den man zu lieben glaubte und bei dem man dann nur noch aus Angst bleibt – es ist eine furchtbare Art, allein zu sein.«
»Hat dich das Tanzen glücklich gemacht?«, fragte Antoney.
Oscar sann darüber nach. »Ja, doch«, antwortete er. »Hin und wieder. Für die Dauer eines Sprungs.«
Im Herbst des folgenden Jahres, 1964, ging Antoney mit Oscar ins Shaftesbury Theatre, wo Alvin Ailey mit seinem Ensemble auftrat. Bei »Revelations«, einer mitreißenden Tanzfolge zu Spirituals und Gospelmusik, gab Antoney alle Hoffnung auf. Er war überwältigt, von der Pyramide aus Armen gleich zu Beginn, dem wogenden weißen Schirm, der Schnelligkeit und Schönheit des männlichen Trios und den seltsam sich biegenden Tänzerinnen mit ihren Fächern. Als sie inmitten des endlosen Applauses standen, Antoney starr vor Verlangen und einem brennenden Schmerz, weil er so viel schlechter war, neigte Oscar den Kopf in seine Richtung und sagte: »So etwas könntest du auch. Das ist ja keine Hexerei. Das sind bloß die Bewegungen in deinem Kopf.«
4
»Sie sind bestimmt Louis? Vom West -Magazin?«
Simone de Laperouse blieb einen Schritt vor Lucas’ Tisch stehen. Er erhob sich, nicht, weil er darin geübt wäre, eine Dame in einer eleganten Brasserie mit adäquaten Umgangsformen zu empfangen, sondern weil sie etwas an sich hatte – etwas Melodramatisches in den Schultern, eine Strenge in ihrem lippenstiftgetränkten Lächeln –, das ihm gebot aufzustehen. Sie war ausgesprochen zierlich, trug einen pinkfarbenen Frühlingsmantel mit eckigen Knöpfen und rundem Kragen, als
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