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Als würde ich fliegen

Als würde ich fliegen

Titel: Als würde ich fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Evans
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wäre sie wirklich gerade dem Jahr 1969 entsprungen. Ihr pechschwarzes Haar war so stramm nach hinten gebunden, dass ihre Augen schräg nach oben wiesen. Denise sah manchmal auch so aus, wenn sie ihr Haar zu fest flocht. Lucas beugte sich, schüttelte die winzige Hand, seine war feucht, und dankte Simone de Laperouse, dass sie den weiten Weg von Battersea her auf sich genommen hatte.
    »Für meine Verspätung«, sagte sie und befreite einen Finger nach dem anderen aus einem Paar zarter, schwarzer, im Mai seltsam deplatzierter Handschuhe, »ist die Hammersmith-and-City-Linie verantwortlich. Der Zug ist mitten auf der Strecke liegen geblieben.« Sie entblößte einen Karneval aus Ringen und lange, zum Mantel passende, fuchsiafarbene Nägel; ihr rechtes Handgelenk war ein Orchester aus Armreifen. Sie warf die Handschuhe auf den Tisch und legte den Schal ab. Lucas schätzte sie auf Mitte fünfzig.
    Er hatte sie im Schrank gefunden, ein weiß gefiederter Vogel, in einem Stapel kaum lesbarer Zeitungsausschnitte versteckt, der schlanke Hals zu einem dunklen Bühnenboden hin geneigt. »Bird«, so besagte die Bildunterschrift, sei eines der wichtigsten Werke des Midnight Ballet gewesen. Lucas hatte sich dem körnigen, schwarz-weißen Zauber dieser Aufnahme so lange hingegeben, so viele einsame Stunden durch die modrigen, holzig riechenden Erinnerungsstücke gewühlt (die, so empfand er es nun, all die Zeit auf ihn gewartet hatten, sein »Zug« waren, wie Dr. Glenda es formuliert hätte), dass es ihn nun sehr verwirrte, sie als schmuckbehangene Lady, noch dazu in farbig-plastischer Gestalt, vor sich zu sehen. Er hatte eine schlichtere, leicht verblühte Version des weiß gefiederten Mädchens erwartet. Im Vergleich dazu wirkte sie grell, wie eine gealterte Chaka Khan oder die Mutter von Naomi Campbell. Nachdem er sich an einer witzigen Entgegnung zum Hammersmith-and-City-Debakel versucht hatte, was ihm nicht gelungen war, fragte er sie, ob ihr der Platz recht sei. Er sprach sie als Mrs. de Laperouse an.
    »Miss, bitte.« Sie reichte ihm ihren Mantel, zum Vorschein kam ein Bleistiftkleid mit einem Reißverschlussgürtel aus den Achtzigern. »Das hier ist schon ein wenig nah an der Tür, oder nicht? Egal. Ich werd mich hierhin setzen.« Sie schritt mit ihren unentwegt agierenden Schultern um den großen runden Tisch herum, zu der reich mit Kissen belegten Wandbank. An diese Bank drängten sich sämtliche, elegant gedeckten Tische mit ihrem üppigen weißen Leinen und dem verwirrenden Besteck, den Gläsern, kleinen Tellern, Zwei-Stiel-Vasen und Servietten – wo soll man hier noch essen?, hatte sich Lucas gefragt, als er gewartet und über seine Einstiegsfrage nachgesonnen hatte. Antike, goldgerahmte Spiegel brachen, neben einer Galerie stimmungsvoller Bilder von Filmstars, die Wände auf. Einige Tische schwärmten hinaus auf die Straße. Simone de Laperouse die Wirkliche visierte den ersehnten Sitzplatz an, fuhr mit dem Handrücken darüber, reckte ihr Adlernäschen ein wenig höher, ihr durchgedrücktes Rückgrat eine Mahnung an alle Krummsitzer dieser Welt, und ließ sich langsam und majestätisch wie auf einem Thronsitz nieder.
    »Ich sitze nicht gern mit dem Rücken zum Publikum«, erklärte sie.
    Lucas hatte zuvor anderthalb Stunden mit der Entscheidung zwischen Jeans und Cargohose, zwischen Stevie-Wonder- und Rhythm-Nation-T-Shirt verbracht. Am Ende waren es Stevie und Jeans geworden, obenauf eine Wolke Axe-Spray, doch als er aufgebrochen war, hatte er sich schlabberig und unpassend gefühlt. Laut Melissa sollte die Einstiegsfrage allgemein, jedoch präzise sein, am besten humorvoll, persönlich, aber nicht zu persönlich, intelligent, aber auch nicht allzu tiefschürfend. Am besten, sie kam spontan – wenn man so was schaffte. »Interviews sind wie Sex«, behauptete sie. »Man muss sich fallen lassen und trotzdem zeigen, dass man weiß, was man tut.« Nach einigen ratlosen Sitzungen auf dem Bodenkissen war Lucas auf zwei mögliche Fragen gekommen. Er wollte einen Versuch in Sachen Spontaneität wagen und sich in letzter Sekunde für eine entscheiden. Nun aber fiel ihm keine der beiden ein. Ihm war nämlich gerade aufgegangen, dass sein wahrer Name auf Seite sechs der aktuellen West stand – und die hatte er Simone de Laperouse eben gereicht –, gleich unter der Liste »Die fünf schlechtesten Popsongs aller Zeiten«. Louis Miguel (der Nachname war eine Leihnahme von Sizzla, es war dessen bürgerlicher Name) war, so

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