Als würde ich fliegen
Güte, wenn wir untergehen würden, könntest du nicht mal allein ans Ufer schwimmen!« Lucas erinnerte sie daran, dass er, im Gegensatz zu ihr, sehr wohl schwimmen könne. »Das weiß ich«, sagte sie spitz. »Das war sinnbildlich gemeint.«
Simone de Laperouse nahm sich eine Olive mit einem Zahnstocher von einem gemusterten Tellerchen und steckte sie sich in den Mund. Lucas sah gespannt zu, er verfolgte jede Regung, wie die kauenden Lippen ihr Rot verloren, die steinbeschwerten Finger funkelten. Die Ohrringe hatten ihr goldenes Zeitalter längst hinter sich. Simone de Laperouse war eine Mittlerin zwischen einst und jetzt. Sie besaß das verborgene Wissen, sie war der Schlüssel zu allem. »Ich beginne am besten von vorne.«
Das Diktiergerät wurde eingeschaltet. Die Brasserie war von weich gespültem Ambientsound durchflutet, und Lucas hatte Sorge, dass die Musik samt dem Geklapper von Messer und Gabel Simone de Laperouse übertönen könnte. Ihre Stimme war durchdringend, bemuskelt und hätte sich so gerne hinter einer vornehmen Fassade versteckt. Trotzdem verschluckte sie ständig die Vokale.
Im Alter von fünf Jahren hatte Simone de Laperouse ein Bild von Josephine Baker mit ihren angeklebten Haarsträhnen gesehen. Simone war von so viel Schönheit, Glamour und Stärke derart geblendet, sie wollte nur noch eins, wie Josephine sein, und so nahm Simone in Kilburn Ballettunterricht. Sie wusste, sie musste Tänzerin werden, so wie alte Menschen sicher wissen, dass sie sterben müssen. Mit neunzehn tanzte sie für das Ballet Rambert vor, schaffte es aber nicht, »obwohl meine Haltung besser war als die der meisten Mädchen.« Sie unternahm einen Ausflug in die Welt des Cabaret. »Aber um das klarzustellen, Louis, weil manche Leute Cabaret mit Striptease verwechseln. Ich hab meine Kleider von Berufs wegen nie abgelegt, nur in der Garderobe. Für so was bin ich nicht der Typ.« Sie erging sich in den Vor- und Nachteilen des Cabaretlebens – nächtliche Busfahrten von der Baker Street, die gefährlich hohen Absätze. Um »dran«zubleiben, hatte sie in jener Zeit auch hin und wieder bei kleineren Festivals »richtige« Auftritte absolviert, und zwar mit Oscar Day, der in einer Kirche, ganz in der Nähe übrigens, experimentellen zeitgenössischen Tanz unterrichtete. »Wahrscheinlich haben Sie den Namen schon mal gehört. Er war ja damals recht bekannt. Ein Exzentriker. Und bisexuell war er wohl auch.«
Lucas hatte nicht von ihm gehört. Mit einem kurzen Lachen fügte Simone hinzu, er sei außerdem Nijinskys treuester Fan gewesen.
»Nijinsky?«
»Der Balletttänzer. Der Russe. Das können Sie ja nachlesen. Jedenfalls war Oscar ein fantastischer Lehrer, es gab keinen besseren. Er hat uns an das eigentliche Wesen des Tanzens rangeführt, und nach seinem Unterricht war man immer irgendwie …«, sie suchte nach dem richtigen Wort, die Finger funkelten, » lebendig und gestärkt . Er hat mir geholfen, mich im Tanz selbst zu finden . Ohne Oscar hätte es auch das Midnight Ballet nie gegeben.«
»Tatsächlich?«, sagte Lucas. »Lebt er noch?«
»Ich hab keine Ahnung, aber gut möglich, dass er lange tot ist. Machen wir heute eigentlich Fotos? Ich war nicht sicher.«
Manchmal schickte Finn einen Fotografen mit zu einem Interview, um währenddessen Bilder zu machen. Glücklicherweise hatte er Simone de Laperouse des Aufwands nicht für wert gehalten, und so hatte Lucas sie ganz für sich allein. Er konnte es verderben, sich nach Kräften blamieren, niemand würde je davon erfahren. »Wir hätten gerne eine alte Aufnahme von Ihnen beim Tanzen.«
Davon, erfuhr er, hatte sie zu Hause viele. Sie nippte an ihrem Wasser, führte ihren Bericht aber erst auf ein neues Stichwort fort, als ob die Kränkung, nicht fotografiert zu werden, oder der Schwenk des Rampenlichts auf Oscar ihr die Lust am Erzählen genommen hätte. Sie saß so aufrecht da, der Rücken so starr wie ein Lattenpfosten, dass sich Lucas unter seinem Stevie-T-Shirt ganz schäbig vorkam. Er streckte sich, während sie sich über Oscars interaktiven choreografischen Ansatz, seine besondere Achtung vor ihrem Talent und seine »innovative Formensprache« ausließ, was Lucas alles nur halb verstand. Wäre er doch so pfiffig wie Jeremy Paxman. Der war in seinem Nachrichtenjournal so was von gut! Immer, wenn sich ein Interviewpartner auf einem Nebenschauplatz verrannte, fing er ihn mit einer Frage im Stile von »Wieso ist die Partei Ihrer Meinung nach nun für einen
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