Als würde ich fliegen
den Schoß streichen, immer schneller, aufspringen, nach vorne trippeln, die Arme über dem Kopf, als ob man eine Treppe hinunterstürzen würde. Wow, ich hatte keine Ahnung, dass ich das noch weiß. Der Körper vergisst nie, wohl wahr. Ich hab diese Phrase verflixt oft wiederholt. Sie kam bei Antoney immer vor, wie eine Art Markenzeichen.«
»Was sollte das bedeuten?«
»Keine Ahnung.«
»Wer war noch in dem Stück?«
»Antoney, Ekow. Der harte Kern des Midnight Ballet.« Simone blickte kurz in den Schoß. »Und eine Freundin von mir, Carla Bruce.« Als sie den Blick wieder auf Lucas heftete, zeichnete sich auf ihrem Gesicht eine beängstigende Erkenntnis ab.
Sag es, jetzt. Es war an der Zeit, dass Louis abtrat und Lucas die Bühne überließ. Carla war viel zu präsent. Ein schwerer, perliger Dunst hing über dem Tisch. »Leider ist sie früh verstorben«, sagte Simone und erhöhte den Druck, die Maske abzulegen. Lucas war nun ganz sicher, dass sie ihn durchschaut hatte, aber die Worte in seinem Kopf drangen nicht aus dem Mund. Louis war schneller.
»Tut mir leid«, sagte er.
»Ist schon gut, ist lange her.« Sie beugten sich über ihre Teller, Lucas mit dem gleichen Gefühl, mit dem er sich über das Tagebuch gebeugt hatte. Dies war nicht sein Ort, er war fehl am Platz, so wie das Filzstift-Gekrakel, das über die Seiten tollte. Er hätte Simone so gerne von seinem Traum erzählt, in dem sich seine Mutter die Hände wusch, er hätte sie so gerne gefragt, ob sie seine Mutter je in dem Perlenkleid gesehen hatte, als es noch scharlachrot war, aber er fand keine Worte dafür.
»Ich wette, Sie haben den Laden ordentlich aufgemischt«, sagte er und fand sich selbst mit diesem Ausdruck völlig idiotisch. Jake erschien und fragte pflichtgemäß, ob das Essen in Ordnung sei und sie noch etwas trinken oder mehr Brot wollten. »Wissen Sie was«, beschloss Simone, »ich nehm doch einen Wein, aber nur ein Gläschen.« Fünf Minuten später beugte sich Jake neben sie und stellte ihr rechter Hand einen perlmuttweißen Kelch hin. Er zwinkerte Lucas zu und begab sich in Warteposition neben einen Speiseaufzug, ohne sein Tablett herumzuwirbeln.
»Komisch«, sagte Simone und nahm den ersten Schluck. »Aber irgendwie erinnern Sie mich an Carla.«
»Das ist komisch. Wieso?«
»Sie haben so was an sich. Keine Ahnung, wahrscheinlich spielt mir bloß der Verstand einen Streich. Ich hab diese Leute so lange nicht erwähnt, und nun seh ich ihre Gesichter vor mir. Und dann hier zu sein, auf der Portobello Road … Ich hab lange in Paris gelebt, da war das alles in weite Ferne gerückt.«
Sie war mit Carla zur Schule gegangen. Sie hatten gemeinsam auf der Harrow Road Straßenmusik gemacht, da waren sie gerade zwölf. Carla hatte auf einem umgedrehten Eimer Weihnachtslieder gesungen und Simone dazu gesteppt. Immer Weihnachtslieder, egal, zu welcher Jahreszeit. Wenn sie einen Penny bekamen, hatte sich Carla den Eimer über den Kopf gestülpt. Simone kicherte seltsam, als sie davon erzählte. »Ja, das war Carla. Eine wunderbare, natürliche Tänzerin. Rein und fließend. Sie hat’s nur nie geglaubt.«
»Was meinen Sie damit?«
»Sie hat immer behauptet, sie hätte kein Talent. Wir anderen seien ›richtige‹ Tänzer und sie sei nur zufällig dabei gelandet, womit sie sogar ein wenig recht hatte – der Tanz war nicht ihr Leben. Carla hätte ebenso gut was anderes machen können.« Simone hob das Glas an die Lippen und trank gedankenverloren. »Sie stand nicht gern im Rampenlicht. Was mich erstaunte. Ich kannte sie schließlich ein Leben lang, und Hemmungen hatte ich nie bei ihr bemerkt, bis sie dann mit Antoney zusammenkam. Und wie sie sich gekleidet hat! Ach! Das Mädchen hat diesem Kerl überhaupt erst mal gezeigt, was Stil ist!«
Simone schien es zu genießen, nach langer Zeit in Erinnerungen an ihre Freundin zu schwelgen. Sie blätterte einen Katalog von Carlas Kleidern auf, sämtlich aus Secondhandshops, Schals und alte Stiefel, Miniröcke, Blusen, Vintagekleider – das Flapperkleid inbegriffen. Sie hatte ihre Outfits wild kombiniert, mit Farben, die nicht harmonierten, orangefarbenen Strumpfhosen, Pelzmänteln. Sie war ihrer Zeit weit voraus gewesen. »Die Mädchen von heute halten sich für trendy, doch von Carla könnten sie was lernen. Aber Antoney! Er trug immer diese entsetzlichen Laurel-und-Hardy-Hosen, die vorn Falten werfen, und zwar schlimme Falten, dazu langweilige, durchschnittliche Hemden, dreckige Schuhe,
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