Als würde ich fliegen
ausgemacht, so zu tun, als würden sie sich nur flüchtig kennen, damit es wirkte, als wäre dies einer der vielen Orte, die Lucas an einem Dienstagnachmittag im Zuge seines journalistischen Einsatzes aufsuchte. In Anbetracht ihrer verdrießlichen Reaktion auf die Öffnung des verbotenen Schranks war Denise über das Treffen erst gar nicht informiert worden, und so war Jake der einzige Mitwisser in der Louis-Miguel-Scharade. »Na, wie läuft’s so, Louis?«, fragte er.
»Echt gut«, sagte Lucas. Er wollte das Geplauder auf ein Minimum beschränken, Jake war ein lausiger Lügner. Er checkte Simone ab. Lucas wusste genau, was er dachte: gar nicht übel, die Alte.
Dann besaß er auch noch die Unverfrorenheit zu fragen: »Sind wir uns schon mal begegnet?«
»Ich glaube kaum, junger Mann«, erwiderte Simone, warf ihm aber ein mädchenhaftes Lächeln zu und spielte an ihren Ketten herum.
»Hier kommen viele berühmte Leute her. Wissen Sie, wer neulich hier war? Annie Lennox. Echt. Voll wahr. Sie hat …«
»Was hätten Sie gerne?« Lucas lenkte die Aufmerksamkeit wieder auf die Speisekarte. Jake hatte ihm bei einigen Gerichten Kostenfreiheit gewährt: Brot, grüner Salat, Riesenoliven und Fisch. Die Freigetränke beschränkten sich auf Ananassaft und Hauswein. »Möchten Sie ein wenig Brot?«
»Es gibt frischen Wolfsbarsch«, sprang Jake ein. »Luc… Louis. Du kennst dich hier aus, du kannst unseren Hauswein doch empfehlen.«
»Oh, dafür ist es zu früh«, sagte Simone. »Nur Wasser, bitte.« Sie bestellte den falschen Salat. Jake musste behaupten, es gebe keine Tomaten mehr. Und Lucas ihm später beibringen, dass er sich niemals als ernsthafter Schauspieler versuchen sollte.
Neben den Zeitungsausschnitten, einigen Fotografien, einem Männerschuh aus Schlangenleder mit breiter Spitze und dem Flapperkleid seiner Mutter hatte Lucas im Kirschholzschrank auch ein Tagebuch aus dem Jahr 1969 gefunden, ebenfalls von seiner Mutter. Es war ledergebunden und recht dünn, wie ein Kalender, in den man mehr als nur Termine, nicht jedoch längere Abhandlungen eintragen kann. Er hatte versucht, es in einer Lichtung am Ufer, ein Stück vom Boot entfernt zu lesen, damit Denise ihn nicht erwischte. Kindliches Filzstift-Gekrakel tollte über die Seiten. (War das von ihm? Denise?) Unter den ersten Monaten standen kurze, sporadische Einträge, »Tournee-Treffen«, »Rushwood Simone«. Im Frühling und Sommer hatte sie mehr notiert. Er fuhr mit dem Finger über ihre ordentliche Schulmädchenschrift. Siebter Juni: Ich bin an die Erde gefesselt. Es ist eine Schande. Ich kann mich nur noch vorwärtsschleppen. Ihm fuhr es kalt den Rücken hinunter, als er ganze Sätze von ihr las, wo ihr Grabstein doch gleich hinter der Mauer lag. Darum überflog er die Seiten, auf der Suche nach Namen – »A« nahm er an, hieß Antoney; Simone wurde oft erwähnt, ebenso ein gewisser Bluey. Das Tagebuch trug ihn von seinem Vater fort, während nun Carla, deren Stimme in den Schriftzügen beinahe hörbar war, in ihrem scharlachroten Kleid auf dem Boot umherwandelte. Sie war präsent, wenn die Sonne an den Kajütenwänden aufblitzte; früher, als das Kleid noch am Schrank gehangen hatte, hatten seine Perlen so gefunkelt. Er träumte von seiner Mutter, davon, dass ihn das Geräusch fließenden Wassers weckte, und dann stand sie im Badezimmer und wusch sich die Hände.
Vor ihm tat sich eine endlose Straße auf. Er hatte Denise in der kleinen Essecke über einem Teller Brotfruchtreis mit Erbsen ganz sachlich gefragt: »Kennst du eine Frau namens Simone?« »Simone wer?«, hatte sie zurückgefragt, als spielten sie ein Namensrätsel – sie war guter Dinge, die Heilsarmee hatte ihr aufgetragen, ein Mittagessen zu beblumen. Aber auch der Nachname sagte ihr nichts, bis er ergänzte: »Sie war wohl eine Freundin der Familie oder so.« Denise schluckte missgefällig ihren braunen Hühnereintopf. Sie presste die Lippen so fest zusammen, wie sie die Erde immer über ihren neuen Blumenzwiebeln andrückte. Das Boot schaukelte. »Woher weißt du das?«, fragte sie in eisig kaltem Ton und beschied Lucas, noch bevor er seine ausweichende, ausschweifende Antwort beendet hatte: »Der Mist, den du da gefunden hast, interessiert mich nicht. Ich will nichts davon hören. Verbringst du damit deine Tage, während ich arbeiten geh – du wühlst in einem Schrank herum? Lucas, pack endlich dein Leben an. Es gibt nichts umsonst. Ich mach das hier nicht mehr lange mit. Meine
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