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Als würde ich fliegen

Als würde ich fliegen

Titel: Als würde ich fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Evans
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oh, es war eine Schande. Ich hätte mein Kind so nicht auf die Straße gelassen. Wenn sich der Wert eines Mannes in seiner Kleidung ausdrücken würde …«
    »Okay, verstehe …«
    »Jedenfalls, als Carla mit ihm fertig war, da trug er Pink. Sie hat die schmuddeligen Schuhe abgeschafft und ihm ein Paar schlangenlederner besorgt. Röhrenhosen, gut sitzende Jeans. Das war eine der radikalsten Verwandlungen in der Modegeschichte. Wenn sie ihn nicht angeleitet hätte, hätte Antoney auch niemals den Mumm gehabt, anderen – Interessen nachzugehen … Die Verpackung ist alles.«
    Lucas nahm einen großen Schluck Wasser und erkundigte sich, auf welche Interessen sie anspielte. Am liebsten hätte er sich in eine Gasse verdrückt und mit Jake eine rauchige Auszeit von Mr. Miguel gegönnt, aber würde ein Journalist in Festanstellung so etwas tun, wenn das Gespräch an einem heiklen Punkt war?
    »Ich verbreite nicht gern Klatsch«, sagte Simone. »Viele Männer haben Mühe, treu zu sein.«
    »Wollen Sie damit sagen, dass er sie betrogen hat?«
    »Wie gesagt, ich verbreite nicht gern Klatsch.« Sie wandte sich von ihm ab, zum Raum hin, sie schien ihren Gedanken nachzuhängen. Lucas beschlich das Gefühl, dass sie keine allzu vertrauenswürdige Quelle war, dass sie ihm nur einen Teil erzählte. Der weichgespülte Ambientsound war einer französischen Sängerin gewichen, die Lucas traurig stimmte, aber vielleicht lag es auch an dem Gespräch. Er verzichtete auf weitere Fragen nach seiner Mutter, aus Angst, dass er mit den Antworten nicht umgehen konnte.
    »Sie hatte zwei Kinder«, sagte Simone von ferne. »Ich hätte den Kontakt zu ihnen halten sollen.«
    Das Interview schritt dann zu der Zeit voran, als das Midnight Ballet gegründet wurde. Simone erläuterte, dass Antoneys Unerschrockenheit in der Choreografie getrogen und den Eindruck vermittelt habe, er sei viel reifer, als es tatsächlich der Fall gewesen sei. Alles war sehr rasch geschehen. An das Sphinx-Projekt schlossen sich weitere gemeinsame Arbeiten mit Oscar an, bei denen sie den Hauptpart tanzte. Das habe schließlich dazu geführt, dass sie zur »Solotänzerin« der Truppe wurde (was Lucas so nirgends gelesen hatte). Sie behauptete, dass sie die »Muse« seines Vaters war. »Unabhängig davon, wie ich zu Antoneys Defiziten als künstlerischer Leiter gestanden hab«, sagte sie, »hab ich seine Arbeit gern getanzt. Sie war flüssig. Sinnlich und eklektisch. Sie war von einer kindhaften Beharrlichkeit, hatte was von Oscars Unerschrockenheit.«
    Im Jahr 1966 (»Gott, bin ich alt«) fand in Oscars Souterrain ein Vortanzen statt, um Teilnehmer für eine Show im nahe gelegenen Ledbury Theatre zu finden, mit dessen Leiter Oscar befreundet war. »Es ging also bloß um eine Show. Am Anfang stand gar nicht die Absicht, eine Compagnie zu gründen.«
    »Wo genau war denn die Kirche?«, fragte Lucas.
    »Hier gleich um die Ecke, am Powis Square. St. Bernard. Sie ist vermutlich inzwischen abgerissen, sie war damals schon ziemlich baufällig.«
    »Und die Tür hat ganz viele Schnitzereien und so?«
    »Ja, wie Notre-Dame, hat Oscar immer gesagt. Steht sie etwa noch?«
    Ein Frösteln, ein Spinnen-Kribbeln setzte sich auf seine Schulter und wanderte nach unten. Er, Jake, sie klettern über das hohe Tor in den Hof, Jake mit seiner Klammer um die großen Zähne, er selbst in seinen zerschlissenen Boots-Turnschuhen. Sechs Stufen bis ins Souterrain. Wer schafft alle auf einmal? Hörst du das? , fragt Lucas. Er legt das Ohr an die Tür zum Kellergeschoss. Was denn? Jake kommt zu ihm. Hörst du die Glocke? Welche Glocke? Ich hör keine Glocke. Sie hören genauer hin, und nun sind dort viele Geräusche, Stimmen, Trommeln, Lachen, Schritte, Simone. An jenem bewölkten Wintertag anno 1966 stiegen Simone de Laperouse mit glänzenden Lippen und den unvermeidlichen Legwarmern, Carla mit ihrem waldigen Haar und Vintagestiefeln, Antoney mit Röhrenhose und neuer Künstler-Miene, Ekow mit seinem ungenutzten Talent und ein ganzer Strom weiterer Hoffnungsvoller hinab durch diese Tür zu Oscar Day, zwanzig oder dreißig an der Zahl, von überall her, West-London, nördlich, südlich der Themse, einige sogar aus Birmingham. (»Fragen Sie mich nicht, wie sich das so weit rumsprechen konnte.«) Einige waren in England geboren, andere noch nicht lange dort. Es waren viele Nigerianer darunter und eine Reihe Jamaikaner mit ihrem verschlagenen Blick. (»Sie wissen, was ich meine, Antoney jedenfalls hatte

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