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Als würde ich fliegen

Als würde ich fliegen

Titel: Als würde ich fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Evans
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diesen Blick«, sagte Simone.) Es kamen Studenten, Fabrikangestellte, Tanzverrückte, Nachtarbeiter. Beim Vortanzen waren die Frauen den Männern zahlenmäßig überlegen, bei der Musik war es umgekehrt. Es war eine unglaubliche Atmosphäre. Alles schien möglich. »Damals, Louis, war es nicht wie heute, heute gibt es Ensembles wie Adzido, Kokuma oder Phoenix. In den Sechzigern aber war eine schwarze Tanzcompagnie die absolute Ausnahme hier. Wenn, dann versuchte man es im West End, oder bei einem zeitgenössischen oder klassischen Ensemble, obwohl man dafür eine Ausbildung brauchte. Von den Leuten hatte übrigens niemand eine. Es hat im Midnight Ballet immer nur eine professionelle Tänzerin gegeben, und das war ich.«
    Simones Vater war Wissenschaftler gewesen, er war einer der ersten Barbadier, die in Oxford studierten, wie sie eilig hinzufügte. Als junges Mädchen, nach dem Josephine-Bild, hatte ihr Wissenschaftler-Vater etwas gesagt, das sie nie vergessen hatte. Er hatte ihr erklärt, dass menschliche Wesen aus Sternenstaub bestehen. Ja, ganz genau. Wir sind aus Wasserstoff und Sauerstoff und vielem anderem, aber wir sind auch aus leichten Atomen, die in den Leibern uralter Sterne geboren wurden. »Ist das nicht schön?« (An dem Punkt wurde Simone Lucas wieder sympathischer.) »Die Vorstellung, dass das Universum in uns ist, dass wir so viel mehr sind, als wir glauben oder die Gesellschaft uns erlaubt?« (Mann, und ob!) »Mir war die Vorstellung immer zuwider, ein gewöhnliches, mittelmäßiges Leben zu führen. Ich wollte hell sein. Ich wollte strahlen.«
    »Aber Sie strahlen doch.«
    »Ach wo. Nicht mehr! Ich bin eingestaubt. Eingerostet. Sehen Sie mich an, ich bin alt und steif. Damals hab ich geleuchtet . Sie hätten mich sehen sollen – ich war so hell wie der Polarstern, ein ganz anderer Mensch. Ich erkenne mich dieser Tage selbst kaum wieder.« Sie war den Tränen nahe und klammerte sich an ihrer Serviette fest. Ohne Lippenstift wirkte sie alt. Sein Rot hatte ihr Kinn verschmiert.
    »In dem Souterrain an jenem Tag«, fuhr sie fort, »waren alle wie ich, egal, wer sie waren und woher sie kamen. Wir alle wollten strahlen.«
    Und so hatten sie sich also in Oscars Souterrain eingefunden. Die hohen Fenster waren benetzt von Körperhitze. Die Trommeln dröhnten, die Herzen bebten, die Tänzer dehnten sich, die Glocke schlug. »Wer hat die Glocke gespielt?«, fragte Lucas. »Die Glocke?«, sagte sie. »Sie meinen die Cowbell? Das war Bluey. Bluey war an jenem Tag aber nicht dabei.« Oscar ergriff das Wort, den Rücken zu den Spiegeln, und brachte den Saal zum Schweigen. Antoney stand neben ihm, scheu und verlegen. Bei dem Projekt gehe es um drei Abendaufführungen im Ledbury Theatre, erklärte Oscar, ein einmaliges Experiment, aber er hoffe auf Wiederaufnahmen. Für die Proben gab es kein Entgelt, aber alle würden einen Obolus erhalten, falls am Ende die Kasse stimmte. Er würde schon seit vielen Jahren unterrichten, fuhr er fort, nun aber habe er das Glück gehabt, dass ein sehr talentierter junger Mann namens Antoney Matheus zu seiner Truppe gestoßen sei, ein Name, von dem man in der Tanzwelt seiner Meinung nach noch sehr viel hören würde. Antoney schaute auf den Boden. Die Mädchen musterten ihn, von den kessen Augenbrauen bis hinunter zu den Schwebefüßen. Einige Nachzügler huschten herein und zogen sich weiter hinten um. Es sei sehr selten, so Oscar weiter, dass jemand schon so früh einen so autoritativen und innovativen Zugang zur Choreografie habe. Er pries Antoney wegen seiner »erstaunlichen Fantasie« und seiner Verwegenheit, die Formensprachen von Modern Dance, karibischen und afrikanischen Tänzen zu verweben (bei diesen Worten richtete sich Ekow auf, der an einem Spiegel lehnte). »Aber ich will euch nicht langweilen«, schloss Oscar. »Antoney will sicher selbst einige Worte sagen. Antoney? Möchtest du etwas, äh …?«
    Das Gefummel, Gemurmel und Geraschel erstarb. Es war das erste Mal, dass Antoney zu einer Gruppe sprach. Er trat einen kleinen Schritt zurück, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Er schien zu beten, dass sich der Boden auftat und ihn verschluckte. Als er endlich seine Stimme wiederfand, riefen die Trommler, er solle lauter reden. »Mein Lehrer weiß bessere Worte als ich«, sagte er. »Ich habe nicht so viel zu sagen.« Eine lange Pause. Schließlich fuhr er fort, in kurzen Sätzen, es war eine sehr holprige Rede. »Ich wurde während eines Hurrikans geboren.

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