Als würde ich fliegen

ihn manchmal ziemlich arrogant. Als er sie einmal von einer Party nach Hause brachte, äußerte er, dass wahre Künstler über »gewöhnlichen Menschen« stünden und auf unkonventionelle Weise leben müssten, so wie Oscar, ohne jede Ablenkung. Carla widersprach dem heftig. Sie sagte in einem forschen Ton, in den sich Sarkasmus mischte: »Keine gute Idee, wenn sich dein Leben nur um eine Sache dreht. Das fliegt dir doch irgendwann um die Ohren.«
    Eine Woche später fragte sie ihn, ob sie eigentlich seine Freundin sei, und er sagte darauf: »Baby, warum müssen wir dem einen Namen geben? Lass es doch einfach laufen.«
    »Okay«, sagte sie. »Dann mach’s gut.«
    Sie dachte oft an ihn, wenn sie in ihrem Bett in ihrem neuen Heim auf der Harrow Road lag. Im Gegensatz zu ihrer Mutter war sie über den Umzug froh. Sie hatten nun einen Balkon statt eines Gartens. Freddys Geist hatte sich ein wenig verflüchtigt. In der Ecke ihres Schlafzimmers war ein Rohr, das sich durch alle vier Geschosse zog, sodass sich die Wärme durch das ganze Haus verteilte. In diesem Rohr konnte sie vieles hören, häuslichen Streit, betrunkenes Gemurmel, das Seufzen und Matratzenquietschen von dämmerigem Sex – was sie immer an den wunderbaren Moment erinnerte, als er auf ihr gelegen hatte, beide im selben Rhythmus, seine dreiecksförmige Brust über ihr, die Hände an den Seiten aufgestützt. Sie nutzte das Bild auf ihre Weise, um zu sehen, ob es auch für sie eine Mondreise gab.
    Das Ledbury Theatre war kein See-Ort wie das Carib. Dort war kein Barrakuda. An den blassgrünen Wänden fanden sich weder Seesterne noch Schildkröten, stattdessen Tropfenleuchter, darüber war eine hohe, gewölbte Decke, unter der sich auf einer Metallschiene Spots aufreihten. Doch der Bühnenvorhang – frisch gewaschen und neu aufgehangen – war weinrot, wie es alle guten Bühnenvorhänge, so fand Oscar, sein sollten.
    Das Midnight Ballet versammelte sich dort am Nachmittag des 6. Oktober 1967, einen Monat vor Antoneys sechsundzwanzigstem Geburtstag. Als er das Gebäude betrat, überkam ihn eine starke Erinnerung an jenen windigen Tag im Goldtooth-Bus nach Kingston – die Ziegenböcke an den Berghängen, die Haie auf der Decke des Zuschauerraums, die Blume mit der orangefarbenen Mitte an Mr. Rogers’ Hut. Seine Brust war eng vor Nervosität. Er hatte kaum geschlafen in der Nacht zuvor, weil er solche Angst hatte, dass etwas schiefgehen könnte, die Tänzer ihre Schritte vergessen oder nicht genügend Zuschauer kommen würden. Als Carla mit Simone eintraf – beide strahlten nach der Ei-Maske vom Vorabend, außerdem hatte Carla mit ihrem Haar etwas anders gemacht –, ging er mit seinem durchdringenden Blick direkt auf sie zu und küsste sie auf die Wange, als ob sie seine Frau wäre, so erleichtert war er über ihren Anblick. Ihn störte, dass sich Bluey ständig neben sie drängte, wie ein streunender Hund, der endlich ein Zuhause gefunden hatte.
    Milly und »die Zwillinge« waren spät. Fansa brachte seine neueste Flamme mit und zwinkerte ihr während des Soundchecks ständig zu, sodass Oscar sie schließlich bitten musste zu gehen, woraufhin Benjamin mit Fansa schimpfte. Ekow und Antoney eilten im außerweltlichen Zwielicht des Zuschauerraums umher. Ekow war gefasst. Antoney verlor die Nerven. Er schrie Milly an, weil sie zu spät kam. Er ließ sich nicht beruhigen – es war, als ob sich ein Hurrikan in ihm erhoben hätte. Während der Beleuchtungsprobe, bei der Antoney alles und jeden kontrollieren wollte, eskalierte die Situation. Er traute niemandem zu, bei »Shango Storm« den bernsteinfarbenen Scheinwerfer vier Minuten und zwanzig Sekunden lang auf die Bühne oder ein rotes Spotlight auf die Hebefigur zu richten, die er und Carla beim Blues-House-Duo tanzten. Er brüllte den Techniker an, und als Ekow ihm sagte, er solle sich mal wieder beruhigen, das Licht sei doch gut, fauchte er zurück: »Aber die Beleuchtung ist so wichtig, die Beleuchtung ist so wichtig! Warum ist dir immer alles egal?« Ekow riet ihm, erst mal einen Joint zu rauchen.
    Carla bekam von dem Streit nichts mit, weil sie hinter der Bühne auf einer niedrigen Stufe saß und mit Bluey sprach, der beim Soundcheck des Brukins aus dem Rhythmus gekommen war und sich mit der Verantwortung quälte, die auf seinen Schultern lag. »Du, das ist wie die Atombombe. Wenn die losgeht, sind alle am Arsch. Ich werd alles versauen. Ich mach mir vor Angst in die Hose.«
    Carla zerzauste sein Haar,