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Als würde ich fliegen

Als würde ich fliegen

Titel: Als würde ich fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Evans
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versucht). Als ihre Familie mit dem Gedanken spielte, zurück nach Wales zu gehen, sagte Toreth, dass sie bleiben würde. Sie bekam eine Stelle bei der Soap-Land-Wäscherei in St. Helens Gardens, nahm, wenn die Zeiten hart waren, Pensionsgäste auf, und Carla wuchs mit den vielen Erinnerungen an ihren Vater heran, die das Haus beherbergte – das Foto von ihm in seiner Royal-Air-Force-Uniform auf dem Kaminsims, an der Wand über dem Küchentisch das fadenscheinige Geschirrhandtuch aus Dominica, einer Insel, die ihr beinahe ebenso fern wie der Jupiter war. Als sie Antoney 1962 bei den Marshall-Brüdern traf, war sie mit ihren achtzehn Jahren nicht weiter als bis Llandudno gekommen. Während ihrer Schulzeit hatte sie ihrer Mutter an den freien Nachmittagen bei der Wäsche von Haushaltsleinen geholfen. In Augenblicken unerträglicher Langeweile hatte sie die heißen Laken an ihr Gesicht gedrückt und so lange eingeatmet, bis sie ganz von pflichtgetreuer Hitze erfüllt war, und möglicherweise hatten diese Momente auch ihr Talent für Genügsamkeit genährt. Dies war ein wesentlicher Unterschied zwischen ihr und Antoney. Die Wäscherei hatte Carla gelehrt, dass, wie ruhelos und unzufrieden man auch war, ein frisches Laken immer Frieden bot.
    Falls Antoneys weiche, tiefe Schaukelstimme sie auf irgendeine Weise an einen einst liebsten Klang erinnerte, war sie sich dessen nicht bewusst. Antoney war breit und stark, so wie ein richtiger Mann eben sein sollte. Er war genau ihr Typ. »Sag, wie bist du damit klargekommen, deinen Vater auf diese Weise zu verlieren?«, fragte er sie auf dem 52A von Ladbroke Grove nach Victoria. »Es war schon okay«, Carla zuckte mit den Schultern. »Es ist halt passiert. Wir mussten weiterleben.«
    Busse hatten es ihm angetan. Eines Abends hatte er sie nach dem Unterricht gefragt, ob sie Lust auf einen Ausflug habe. Sie waren mit dem 23er zum Oxford Circus gefahren und zum Piccadilly Circus gegangen. In der folgenden Woche war es der 18er, danach der 30er bis Hackney. Er sagte immer, die Reise sei besser als das Ziel, und ihr fiel auf, dass er am fröhlichsten war, wenn sie in einem Bus saßen. Ampeln, Bäume, Straßen. Von der Regent Street nach Kennington. Von der Upper Street nach Archway. Nachtsterne auf dem Fluss, die Schaufensterpuppen in Knightsbridge. Sein Lieblingsessen waren Ackee mit Salzfisch und Scotch Bonnets. Ihres war Toast. Erzähl mir was von Jamaika, sagte sie. Bergig ist es dort, sagte er, mit steilen Straßen, nicht wie hier, und richtiger Sonne, aber es ist klein. Zu Kuba hatte er mehr zu sagen, dessen Lichter man bei klarer Sicht von der nördlichen Küste Jamaikas aus sehen konnte. Kuba faszinierte ihn. Eines Tages, wenn er genug Geld hätte, wollte er dorthin reisen und sich mit eigenen Augen die afro-kubanischen Volkstänze ansehen. Nach Paris, nach Amerika wollte er auch. Er war so voller Weltendurst und Neugierde, dass sich Carla dagegen ganz langweilig vorkam. Sie nickte und lauschte, wenn er sprach, musterte eine kleine Beule in der Haut über dem Wangenknochen, vielleicht die Erinnerung an einen hässlichen Pickel, und wusste nichts Nennenswertes zu erwidern. Einmal hatte er sie gefragt, ob sie je auf Dominica gewesen sei, und als sie antwortete, dass sie nur das Geschirrtuch habe, hatte er sie mit langem Erstaunen, das sich erst allmählich entleerte, angeschaut.
    Sein intensiver, nach innen gerichteter Blick zog sie an. Sie mochte den rätselhaften Widerspruch, dass sie ihn suchen musste, obwohl seine Blicke nach den ihren suchten. Sein jungenhaftes Lächeln, die Besorgtheit in den Mundwinkeln. Er entwich ihr immer wieder und versank so sehr in sich selbst, dass alles, wovon er sich fortstahl, wohl lange nicht so fesselnd war wie das, was er sich in seinem Geist erschuf. Zurückhaltung sah sie nicht darin. Es war ein Vertrauen in die eigene Welt. Er rauchte gerne was, hockte gerne allein über einem ordentlichen Joint und dachte nach, aber es störte ihn auch nicht, wenn sie danebensaß. Sie sei, so sagte er, einer der wenigen Menschen, bei denen er sich entspannen könne, wenn er high wurde. Bei Oscar hielten sie alle für ein Paar. Und eines Tages wurden sie es auch. Er legte seinen Arm auf dem Oberdeck des 2B um sie, und sie küssten sich. Sie hatten trockene Lippen, und im Bus roch es nach Curry, aber der zweite Kuss war besser, beinahe so gut wie ein guter erster Kuss. In den folgenden fünf Monaten taten sie nichts anderes, sie küssten sich. Sie waren

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