Als würde ich fliegen
war zu brüten, zu erdulden und anzuschwellen. Wenn er zu ihr sagte, er sei müde, hätte sie am liebsten geschrien: Du hast ja keine Ahnung, was müde heißt! Und wenn er sagte, er sei hungrig, hätte sie ihm am liebsten in seinen harten, freien Bauch geschlagen. Er hatte sogar die Frechheit gehabt, ihr neulich bei einer Probe zu sagen, sie müsse sich beim Tanzen schon etwas mehr Mühe geben, sie »strebe nicht hoch genug«. Was wusste er schon von der Schwerkraft? Was wusste er überhaupt?
Es war nicht seine Schuld. Es war seine Schuld, aber ihre auch. Sie hatte es ihm sagen wollen, aber jedes Mal fiel ihr ein, was er bei einem Spaziergang am Grand Union Canal geäußert hatte, und das hielt sie davon ab. »Kinder machen alt«, hatte er gesagt. Das war sehr deutlich. Vor ihnen war eine Familie hergegangen, samt Kinderwagen und Säugling. Kurz vor Antoneys Bemerkung hatte Carla noch gescherzt – vielleicht eine hauchfeine Andeutung –, dass sie eines Tages diese Familie sein könnten. Abscheu war auf seinem Gesicht erschienen. Es hatte sie verletzt. Dieser grässliche Satz (sie fand, das Gegenteil war der Fall) drängelte sich in ihrem Kopf immer ganz nach vorne, wenn sie mit Antoney alleine war, und dann hasste sie ihn umso mehr. Selbst unverfängliche Gespräche litten inzwischen darunter. Sie liebte ihren Embryo. Sie liebte das Wissen, dass er sich heimlich von ihrem Körper ernährte, dass sie niemals allein war. Er war ihr Geheimnis. Niemand in der Truppe ahnte etwas, nicht Simone, nicht einmal ihre Mutter wusste es. Am Tag vor der Abreise hatte sie es Antoney wieder sagen, vorschlagen wollen, dass es vielleicht besser wäre, wenn sie zu Hause bliebe, aber auf seinem Gesicht hatte eine so brennende Erwartung geleuchtet, dass sie es nicht übers Herz gebracht hatte, ihm das zu verderben. Also musste sie es ihm irgendwo während der Reise sagen. Vielleicht regte sich im Pariser Wind ein elterlicher Wunsch. Vielleicht in Amsterdam, in Hamburg. Die vielen Busreisen versetzten ihn gewiss in eine so dauerhaft gute Stimmung, dass er, einmal in Fahrt, alles hinnehmen würde. Er würde das Richtige tun. Sie wusste es. Er würde zu ihr stehen – weil sie waren, was sie waren. Sie war doch seine Kaiserin, seine Königin auf Zauberknöcheln.
Das Theater, das sie gebucht hatte, lag in Montmartre, im Norden von Paris. Antoney und Simone wirkten enttäuscht über sein bescheidenes Äußeres und seine Entfernung vom Epizentrum. Vermutlich hatten sie so etwas wie die Royal Albert Hall erwartet. Die Stimmung besserte sich jedoch, als sie erfuhren, dass sich beide Abende gut verkauft hatten. Hier sollte Simones »Bird«-Solo »Weltpremiere« feiern. Eine Chinesin aus Clerkenwell (ihre kleine Nähstube galt als die schnellste und billigste Schneiderei in Londons Theaterwelt) hatte ein Kostüm aus weißen Federn genäht. Simone nannte sich nun die Haupttänzerin der Compagnie. Carla hoffte insgeheim, »Bird« würde ein Fehlschlag, damit Simone wieder auf den Boden kam, doch das wurde es nicht. Es war elektrisierend.
Das Stück wurde allein von The Wonders Flötenspiel begleitet. Es lebte von der sehr ungewöhnlichen Haltung des Oberkörpers, er war vorgebeugt, Simones dünne Arme waren nach hinten gestreckt, die Hände lagen verschränkt am Kreuzbein auf. Sie machte rasche, zuckende Bewegungen mit dem Kopf, überquerte die Bühne mit fedrigen Schritten und kapriziösen Sprüngen. Carla sah von den Kulissen aus zu. Als Simone zum außerweltlichen Klang der Flöte ihren schlanken Hals reckte und mit der Nase fast den Boden berührte, die weißen Federn ragten in die Höhe, erkannte Carla sie kaum. Sie wirkte zart und durchscheinend, als ob man sie in die Hand nehmen könnte. Oscar hatte immer gesagt, einen Menschen, den man gut kennt, auf der Bühne zu sehen, wäre so, als sähe man ihn nackt. Carla hatte das nie verstanden. Bis jetzt. Sie sah auf das Wesen, das immer schon aus Simone herausflattern wollte – ihr Besonderes, ihr Außergewöhnliches, ihre Josephine. Es war beunruhigend, dass ausgerechnet Antoney dieses Wesen herauslassen konnte, dennoch freute sich Carla für ihre Freundin – bis sie sah, wie Simone während des donnernden Applauses, als sie von der Bühne kam, in Antoneys Arme sprang, so vollkommen federleicht. Carla fühlte sich bei ihrer Hebefigur wie eine Tonne Ziegel. Antoney schien unter ihrem Gewicht zu schwanken. Sie war nicht würdig. Sie hatte nicht das Recht, an diesem Platz zu sein.
Die Show
Weitere Kostenlose Bücher