Als würde ich fliegen
viel in ›Blues House‹ und solltest deine Energie für das Duo aufsparen.«
»Ich komme mit dem Stück, so wie es ist, gut zurecht«, log sie. Simone schaute rasch weg.
»Wir werden nur in der ersten Hälfte ein paar Kleinigkeiten umstellen, okay?«, sagte Antoney.
Alles, wenn sie nur weniger tanzen müsste, wirklich, aber Carla war erneut verletzt. Erniedrigt stand sie auf der Schwelle, sah auf Antoneys Hinterkopf. Simone bedachte sie mit einem Grinsen voll falscher Zuversicht. »Gut«, sagte Carla, »wie du meinst.« Sie rauschte davon, Tränen brannten in den Augen, wenn nur das Duo nicht angetastet wurde, denn das war, wenn Antoney verschwand, ihre einzige Verbindung.
Sie eilte durch den leeren Zuschauerraum in Richtung Ausgang. In der Lobby lief sie Bluey in die Arme. Bei seinem Anblick ging es ihr schlagartig besser. »Du siehst unglaublich aus«, sagte er, und auf seinem Gesicht erschien eine seltene, unbändige Freude. Sie weinte sich an seinem Ohr aus (seine Schulter war zu niedrig) und zog ihn hinaus auf die Straße, an die frische Luft. Bluey war, von ihrer Mutter abgesehen, der einzige Mensch, bei dem sich Carla vollkommen aufgehoben fühlte. Er war die pure Güte, war immer für sie da. Mit ihm konnte sie kommunizieren, auch wenn sie mit keinem anderen Menschen sprechen wollte. Er sah sie auf eine Weise an, die ihr das Gefühl gab, überirdisch schön zu sein, und oft schien es, als könnten sie einander direkt in die Seele schauen – aber das verstand Carla, bislang jedenfalls, nicht unter Liebe. Bluey hingegen, der nun ganz Gentleman neben ihr herschritt, ihre Hand lag in seinem Arm, fühlte sich selbst in Jeans und Sweatshirt nicht geringer als der glücklichste und beneidenswerteste Cowbell-Spieler auf der ganzen weiten Welt.
Sie gingen durch die Straßen von Paris, in enge Seitenwege, in stille Gassen. Sie wussten nicht, wohin sie trieben. Wenn die rechte Straße stärker als die linke lockte, gingen sie nach rechts. Sie erlagen Kurven und Gefällen, sie ließen sich von dem verblüffen, was hinter einer Ecke oder einer Windung lag. Sie waren nicht mehr in Paris. Der Ort, an dem sie waren, hätte überall liegen können, in jedem Viertel, jeder Stadt und jedem Land, denn er war das Wohlige, Gemeinsame in ihnen. Schließlich aber änderten sie den Kurs und suchten die geschäftigen Boulevards, angezogen von der Energie, den nächtlichen Umtrieben. Carla fühlte sich zum ersten Mal, seit sie von London fort war, durch das Fremde rings um sie – das unverständliche Gerede, den anderen Fluss, die unbekannten, geheimnisreichen, interessevollen Gesichter an den Tischen vor den Bars und nächtlichen Bistros – beschwingt und nicht bedroht. Irgendwann nach Mitternacht kamen sie auf die Champs-Elysées, eine Symphonie aus Licht und Verkehr und exquisiten Schaufensterpuppen. Die Passanten sahen Carla nach, als sie in ihrem bauschigen olivfarbenen Rock vorbeischwebte, selbst die hochmütigen Pariserinnen mit ihren Stöckelschuhen und schicken Mänteln lächelten. Allmählich wurde sie müde. Als sie schon dachte, dass sie keinen Schritt mehr gehen könnte, kamen sie an einen hübschen Platz, der von Bäumen und Beerenbüschen umgeben war. Bänke standen dort, und in der Mitte befand sich ein kleines, von Ziegeln gerahmtes Beet. Der Platz lag vollkommen verlassen da, was seltsam schien angesichts all des Trubels ringsum, und er wirkte so ländlich, als wäre er genau in dem Moment, als Carla ihn brauchte, an dieser Stelle aufgetaucht. Ein schmaler Pfad, den die Büsche vom Boulevard aus verbargen, führte zu ihm.
»Ist das schön hier«, sagt Carla. Sie setzten sich nahe beieinander auf eine Bank. Es war ein wenig kühler als draußen.
Sie hatten noch nicht wirklich darüber gesprochen, was sie im Theater so aufgebracht hatte, und jetzt offenbarte sie es ihm. Bluey nahm es nicht gut auf. Carla jedoch war erleichtert, dass sie endlich ihr Geheimnis teilen konnte. »Behalt es aber für dich«, bat sie. »Das muss zwischen uns bleiben.«
»Wieso hast du’s ihm noch nicht gesagt?«, fragte Bluey.
»Ich versuch es ja. Ich habe Angst.«
»Wieso?« Als Carla den Kopf schüttelte, erwiderte er: »Aber du solltest vor deinem Typen nicht so ’ne Angst haben. Was hat er denn getan? Wieso hast du so große Angst?«
»Das ist es nicht, er würde nichts tun. So etwas sowieso nicht – das Problem ist eher, wie er mich ansehen wird.«
»Das kapier ich nicht.«
»Er mag mich so, wie ich bin. Aber wenn ich
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