Als würde ich fliegen
und sich nur an weniges erinnern könne, wohl aber daran, dass sie leicht zu beeindrucken war. Lucas erfuhr weit mehr aus ihrem Tagebuch, das zu lesen er nun den Mut gefunden hatte. Er sah sie nicht als jemand, der leicht zu beeindrucken war.
Über ihr gemeinsames Projekt hinaus zeigte Riley kaum Interesse an Lucas, eines Tages jedoch fragte er ihn im Garten, welche Pläne er habe und ob er für eine bestimmte Publikation schreiben wolle. Lucas legte Nijinsky mit dem Gesicht aufs Gras und wurde prompt aufgefordert, die Seite mit einem Lesezeichen oder Stift zu markieren, damit der Buchrücken nicht litt. »Ich bin mir beim Thema Journalismus nicht mehr so sicher«, antwortete er. »Es sind, wie Sie sagen, doch nur ein paar Seiten in einem Magazin.«
»Ich hatte dabei auf etwas anderes angespielt«, sagte Riley verächtlich. Er schnitt Rosen in seiner Gartenkleidung aus Handschuhen und Overall und zog dabei die Lippen ein.
»Ich weiß«, sagte Lucas. »Aber ich bin kein wirklicher Schreiber. Ich hab kein Thema. Ich hab keine Leidenschaft, nichts, wofür ich brenne, was wirklich mein Ding ist – so wie Antoney, oder Denise.«
Riley schaute verwirrt drein. »Ach ja, die Floristin.«
»Genau. Sie meint, ich sollte bei einer Bausparkasse arbeiten. Sie kapiert’s einfach nicht. Wir sind doch nicht auf der Welt, um von morgens bis abends zu schuften und dann tot umzufallen – da muss doch mehr sein. Und das sag ich ihr auch ständig.«
»Aber irgendetwas muss man mit seiner Zeit ja anfangen«, erwiderte Riley und schnippelte. Lucas erwähnte, dass er gerne reisen würde. Er war noch nie in Jamaika. Er war noch nie außerhalb von Großbritannien gewesen, nur einmal in Calais, bei einem Schulausflug. Als Riley einwarf, dass man dafür Geld benötigte, was wiederum bedeuten könne, dass man eine Zeit lang einen festen Job benötigte, reagierte Lucas verstimmt: »Was, so wie Sie? Den ganzen Tag allein am Schreibtisch, an einem Buch über Tänzer?«
Riley schnitt versehentlich eine prächtig blühende, gelbe Rose ab. Er ging langsam auf Lucas zu, der sich währenddessen schon entschuldigte, aber Riley ging still und unbeirrt weiter und stellte sich wieder zu nahe vor Lucas.
»Du nimmst das Wort Leidenschaft in den Mund«, sagte er. »Aber du hast keine Leidenschaft, kein Interesse. Darum verstehst du auch nicht, wie es ist, wenn man von etwas vollkommen beansprucht, verschlungen wird, von etwas, dem man sich nicht widersetzen kann, dem man folgen muss, selbst wenn es in eine Sackgasse führt. Vielleicht findest du so etwas ja eines Tages. Wir alle haben so etwas, nur lassen wir zu, dass wir es aus den Augen verlieren. Vielleicht entdeckst du ja etwas, wenn du auf Reisen gehst.«
Dies sagte er in sehr trockenem Tonfall, als würde er nicht ernstlich erwarten, dass Lucas so etwas widerfahren würde.
»Leidenschaft gebiert Erinnerung«, fuhr er fort, »Geschichte. Und das ist das Wichtigste überhaupt.«
Meine Güte, der ist ja drauf, dachte Lucas.
»Ich sag ja, der ist völlig durchgeknallt«, bestätigte Jake. »Mit so einem will man doch nicht rumhängen. Wie alt ist der überhaupt, neunzig?«
Auf die Würstchen folgten Tee und Zahnstocher. Jake war mit seinen Zähnen, weil sie so groß und quadratisch waren, immer schon sehr pingelig.
»Sechzig, siebzig – wen interessiert’s? Würdest du dir an meiner Stelle einen Kopf machen, wie alt der ist? Mann, der Typ ist mein Amerika«, sagte Lucas mit weit aufgerissenen Augen. »Mein Leben lang hab ich mich gefragt, wer bin ich, was bin ich, und dann ist da plötzlich dieser Typ, als hätt er auf mich gewartet, und schiebt den Vorhang beiseite. Das bringt mich irgendwohin, das fühl ich. Dass ich den entdeckt hab, ist ein echter Glückstreffer.«
»Mann, du weißt gar nicht, welches Glück du hast, dass du deinen Alten nicht mehr mitbekommen hast.«
Lucas verlor den Faden. Das war ja noch krasser als die Sache mit dem Leichensack.
»Wie bitte?«
»Wenn ich seh, was du dich so alles fragst«, sagte Jake. »Nun, ich kannte meinen Dad. Er hat bei uns gelebt, mich zur Schule gebracht, all das. Aber er war auch ein echtes Arschloch. Sechzehn Frauen auf einmal, ein Kommen und Gehen. Ich wusste nie, mit welcher er dastand, wenn er mich an der Schule abgeholt hat – die anderen Kids haben immer gefragt, ob die Frau meine Mum wär und wie viele Mums ich eigentlich hätte. Das war peinlich , Mann, das schwör ich dir, der Typ kannte echt kein Schamgefühl. Gearbeitet hat
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