Als würde ich fliegen
Feld. Sie war groß und stark und ging, so wie Antoney immer ging, als würde er schweben. Er trug einen steingrauen Anzug. Sie sah, wie er auf das Schloss zukam, sie glaubte sich in einem Traum. Sie lächelte, trotz allem, bei dem Gedanken an das, was sie waren.
Die Gäste im Garten sahen ihn ebenfalls. Er ging so langsam, es dauerte eine Ewigkeit, bis er bei ihnen war. Als er endlich da war, ging er gleich zu The Wonder. Er war frisch rasiert.
»Wo ist meine Frau?«, fragte er.
»Sie kommt jetzt nach unten.«
»Bin ich zu spät?«
The Wonder sah auf die Uhr.
»Du kommst gerade rechtzeitig.«
TEIL ZWEI
8
Vaslav Nijinsky besaß einen alten grauen Wintermantel und einen Tirolerhut. Während des Zweiten Weltkriegs war Nijinsky wegen seiner Unterbringung in diversen psychiatrischen Einrichtungen häufig von seiner Frau Romola getrennt. Wenn sie zusammen waren, mussten sie vor den Bomben und den Zügen nach Auschwitz fliehen. An einem verschneiten Tag, als sie ein Fliegerangriff in Budapest festgehalten hatte, wo sie sich um einen Benzinschein bemühten, kehrte Romola zu ihrem Gasthaus zurück, und dort stand Vaslav, von Kopf bis Fuß mit Staub bedeckt, in einem Zimmer ohne Dach und schaute sie schweigend an. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits schlaff und ergraut und hatte sich, wie es hieß, ein schrilles Lachen angewöhnt. Das Who’s Who der Ärzte hatte sich mit Morphium, Neuroleptika, Bromiden, Opium, Scopolamin, Barbituraten und Insulinschocks an ihm versucht, bis er sich nicht einmal mehr selbst die Schuhe zubinden konnte. Romola entschied, dass er im Krankenhaus sicherer war, und brachte ihn zurück. Dann, eines Abends im Jahr 1945, als Hitler schließlich überall hinter den Verrückten her war – und nicht mehr nur den Juden, Homosexuellen, Zigeunern, Ukrainern, Zeugen Jehovas, Schwarzen, Brünetten und anderen Dissidenten –, wurde ihr Abendessen durch ein Klopfen gestört. Sie ging zur Tür und öffnete. Dort stand Vaslav, Vatza, wie sie ihn nannte, in seinem alten grauen Wintermantel samt Tirolerhut, sein Bündel unter dem Arm. Bei ihm war ein Anstaltswächter, der Romola informierte, dass ihnen befohlen worden sei, bis zum Morgengrauen alle Patienten zu liquidieren.
»Warum erzählst du mir das?«, fragte Jake. »Ich dachte, es geht um deinen Dad.«
»Weißt du, wie alt er war, als er durchgeknallt ist?«
»Wer, dein Dad?«
»Nein, Vaslav.«
»Interessiert mich das? Also, wie alt?«
»Achtundzwanzig«, sagte Lucas mit unheilschwangerer Stimme. »Wieder der Zug.«
»Der Zug ist ein Symbol , Luke. Sag, isst du die Wurst nicht?«
S & M (Sausage and Mash) war einer der zahlreichen markisenverhangenen Imbisse entlang der Portobello Road und die beste Würstchenbude der westlichen Hemisphäre. Auf den Tellern lag ein See aus Sauce – rote Zwiebel war die beliebteste –, darüber erhob sich ein Berg aus Püree, an dem ein, zwei oder drei Delikatesswürstchen hinunterrutschten. Tische und Bänke waren abgenutzt. Von seinem Platz aus konnte Lucas auf Denises Stand schauen. In sechs Wochen, am letzten Augustwochenende, würde ihr Verdienst dank des Notting Hill Carnival einen enormen Aufschwung erleben.
»Also, für mich klingt der Kerl wie ein Irrer«, sagte Jake, nachdem er sich die Wurst von Lucas’ Teller genommen hatte.
»Wer, Vaslav?«
» Riley .«
»Er ist okay, wenn man ihn ein bisschen kennt.«
»Und warum sitzt dieser Typ zwanzig Jahre lang in seinem Haus und schreibt ein Buch über jemanden, den absolut niemand kennt? Findest du das nicht ein bisschen psycho? Woher weißt du, dass bei dem nicht ein paar Knochen unterm Haus liegen? Woher weißt du, Bro – ich will dir nicht zu nahe treten, aber ich muss das mal sagen – woher weißt du, dass dein Alter nicht bei diesem Typen unter der Küche liegt, in einem Sack, und dieses Buch soll ein Versuch sein, das wieder gutzumachen?«
»Das ist doch völlig bescheuert.«
»Ist das Worst-Case-Scenario – aber denkbar ist es.«
»Das ist echt übel.« Lucas schüttelte angewidert den Kopf.
»Aber auf so was lässt du dich ein, Sherlock«, sagte Jake. »Auf die Wahrheit. Und die Wahrheit könnte hässlich sein. Das weißt du doch nicht. Verstehst du, worauf ich hinauswill?«
»Er liegt nicht unter der Küche, okay? Darum geht es nicht.«
»Worum dann?«
»Um Details. Ein genaueres Bild.«
Lucas sah zu, wie Denise einen Blumenstrauß band. Sie zog mit raschem Schwung hier einen Stängel, dort ein paar andere hervor und hielt sie
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