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Als würde ich fliegen

Als würde ich fliegen

Titel: Als würde ich fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Evans
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so sagten die Schlangenmenschen zu Bluey, Vater und Onkel der Trapezkünstlerin waren. Es war ein hässlicher, gefährlicher Kampf, beide Männer hatten Messer, die Menge hetzte sie auf. Der Vater wurde in Bauch und Bein gestochen. Bluey stand am Rand der Menge. Hinter dem Fenster eines Wohnwagens sah er die bezopfte Trapezkünstlerin, die reglos im Kerzenlicht saß. Ihr Mund verzerrte sich regelmäßig zu einem Weinen, das sie rasch wieder einsog. Wenige Tage danach verließ Bluey den Zirkus und ging nach Hause.
    Zurück nach Shropshire konnte er nicht, und so ging er wieder zu seinem Onkel nach Ealing, verbrachte die Tage vor dem Fernseher und den Nachrichten aus Vietnam (35 000 Todesopfer), bis ihn sein Onkel fragte, ob er etwa glaube, dass er sich hier durchschmarotzen könne? Bluey kehrte in die Bäckerei zurück. Der Winter verging, der Frühling war unschön. Wo er gewichtslos gewesen war, war er nun schwer, wo die Leichtigkeit leer gewesen war, war die Schwere nun voller Last. Während er mit seiner weißen Papiermütze hinter der Theke stand, merkte er, dass etwas besonders Schweres neben seinem Herzen saß. Es sprach zu ihm mit Furcht erregender Stimme, denn es war nicht von menschlicher Vernunft, und es suchte unentwegt in ihm herum, nach interessanten Dingen oder Vorkommnissen. Wenn Bluey etwas Süßes aß, einen Marmeladendoughnut etwa, knurrte es ihn an. Dasselbe geschah bei Lebkuchen, die er immer sehr gemocht hatte. Schließlich verzichtete er auf diese Dinge und beschränkte sich auf herzhafte Backwaren und unbehandelten Reis.
    An manchen Tagen langweilte sich das Wesen neben seinem Herzen besonders mit ihm und versuchte, die rote Tür in sein Innerstes zu öffnen. Doch die war immer verschlossen, und das Wesen ärgerte sich. Nun sieh dir deine Adern an, sagte es, deine Adern sind so hässlich. Nun sieh dir deine Knochen an, so bleich und unscheinbar. Lass mich doch herein, ich will in dein Herz schauen. Bluey weigerte sich, aber jedes Mal war es schwieriger als noch am Tag zuvor. Da bist du ja wieder, sagte das Wesen, wenn sie morgens gemeinsam wach wurden. Muss ich noch einen Tag zwischen deinen Rippen verbringen. Um die Stimme zu übertönen, trank Bluey den Wodka aus dem Alkoholschrank seines Onkels, und wenn er nicht arbeitete, las er die Zeitung und stopfte sich den Kopf mit Mord, Vergewaltigung, Bombenangriffen und Politik zu. Wie anders war doch diese Wirklichkeit als das Leben, das er sich mit Carla vorgestellt hatte. Er hatte sich ein Inselleben vorgestellt, ein musikalisches Dasein mit Gleichgesinnten, die wie er auf der Suche nach Frieden wären, wo einem Baby keine Gefahr mehr drohte und jeder Tag von dem Wunsch durchdrungen war, es genauso, nur besser zu machen. Wo finde ich Frieden?, fragte er das Wesen, das an seine Tür kratzte. Hier drinnen, sagte es, lass mich rein und ich zeig es dir.
    Eines Tages lief er in Acton Ricardo über den Weg. »Mann, wo hast du gesteckt?«, fragte Ricardo. »Du siehst nicht gut aus.« Er wollte wissen, warum Bluey einfach abgehauen war, und erzählte ihm das Neueste von der Truppe. Antoney und Carla hatten ausgerechnet einen Lastkahn zu ihrem Heim erkoren und hatten eine hinreißende Tochter bekommen, die so entzückend wie ihre Mutter war, aber mit den Auftritten lief es gar nicht gut. Bluey erwiderte wenig, denn wenn er dieser Tage sprach, sagte das Wesen Worte wie: Oh, deine Stimme, deine Lungen, deine Stimmbänder ! Als Ricardo ihn fragte, ob er in absehbarer Zeit zurückkommen und sie mit seiner Cowbell beglücken wolle, erwiderte er, er habe das Gehör dafür verloren.
    Etwa drei Wochen später entschied er sich dann, das verdammte Ding einfach reinzulassen. Es stieß die rote Tür auf und rieb sich die Hände vor Vergnügen, weil es dort so viel zu tun gab. Das Genörgel hörte zu Blueys Erleichterung auf. Es gab wieder Schwerelosigkeit, reines Schweigen. Er konnte so viele Farben, den Sommer so hell sehen, als ob er die Welt durch einen Filter betrachten würde, der alles verstärkte. Es zog ihn ins Freie, die Bäckerei war ihm unerträglich. Eines Donnerstags, am Tag, bevor sich Jimi Hendrix eine Überdosis in einer Nebenstraße des Grenzhügels verpasste, nahm Bluey seine weiße Papiermütze ab und ging hinaus, um den Himmel zu betrachten, der sein Gesicht schon dem Herbst zuwandte. Bluey fiel ein, dass der Herbst Carlas liebste Jahreszeit war, und mit dieser Erinnerung, und einer anderen, älteren, ging er durch die Straßen West-Londons,

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