Als würde ich fliegen
habe in letzter Zeit viel darüber nachgedacht«, hatte Oscar erwidert. »Ich habe Möwen gehört. Und ich glaube, ich würde an den Ort gehen, von dem ich komme.«
»Und das wäre wo? New Orleans?«
»Weißt du, Antoney, das ist alles so lange her, ich kann mich kaum noch erinnern. Ich müsste meinem Instinkt folgen. Ich müsste einen Schritt in eine bestimmte Richtung wagen und darauf vertrauen, dass ich geleitet werde.«
Oscar hatte an seiner Zigarette gezogen. Er hatte sich erst vor Kurzem einen Stock mit Messingspitze gekauft, den er weniger als Gehhilfe benutzte denn als schmückendes Beiwerk. Seine Haut war weißer geworden, schlaffer, sie schmolz an seinem Körper herab. Das Rheuma hatte den Tanz aus dem linken Bein gestohlen.
»Und hier noch ein weises Wort für eure Reise, Antoney«, Tadel hatte in seiner Stimme gelegen. »Öffne dich mehr, mein Lieber. Sieh nach deiner Truppe. Wenn du zu sehr an deinem Traum festhältst, zerdrückst du ihn. Vaslav würde dasselbe sagen, da bin ich sicher.«
Antoney hatte die Kirche über den Innenhof verlassen, war an einem Rohr die Rückwand hinaufgeklettert und über den Zaun gesprungen – eine letzte Show für seinen Lehrer. »Bis morgen«, hatte er nach unten gerufen.
»Tüdelü«, hatte Oscar entgegnet und war wieder nach innen gegangen.
Nachdem Carla Nein gesagt hatte, verließ Bluey das Schloss in der Absicht, auf eigene Faust heimzufinden. Er nahm lediglich Zigaretten und das wenige Geld mit, das in seiner Jeans war. Als er aufbrach, war Tag. Er ging viele Meilen die Hauptstraße entlang, ohne zu ermüden. Die Arme hingen schlaff an den Seiten. Er fühlte sich gewichtslos, als wäre er von etwas entleert. Irgendwann im Laufe der Nacht nahm ihn der Fahrer eines Benzinlasters mit, der in Richtung Grenze unterwegs war. Schweigend hörten sie Radio Luxemburg, denn keiner beherrschte die Sprache des anderen. Ihre Wege trennten sich in Hannover, wo sich Bluey eine Weile herumtrieb. Er ging über Brücken, Landstraßen, trampte, bettete sich rau. Es ging ihm besser, wenn er in Bewegung war.
Am Rand einer Stadt nahe Amiens stieß er auf einen Zirkus. Er ging nicht auf der Suche nach Arbeit dorthin, wie er es getan hätte, als er zum allerersten Mal fortgelaufen war. Die Zelte lagen still und verlassen in den frühen Morgenstunden da. Er ging in das große Zelt und sah hinauf zur Schaukel der Trapezkünstler, so hoch über allen Dingen. Dies schien ihm ein guter Platz zum Schlafen zu sein, doch er kam nicht bis dort, und so schlief er auf den Zuschauersitzen, auf drei Metallstühlen, wo ihn morgens eine uralte schwarzhaarige Frau weckte und über ihn die Nase runzelte. Sie nahm Blueys Kleider und wusch sie in einem nahe gelegenen Fluss. Sie gab ihm etwas zu essen, dann einen Besen und wies ihm den Weg zu den Tieren. Das Zirkusplakat zeigte einen müden Zaubertrick mit vier Kaninchen und einem Hut sowie einen dreibeinigen Pudel, der Reifen auf seinem Hinterbein kreisen ließ. Die Trapezkünstlerin war ein junges Mädchen mit Zöpfen und schmalen Hüften. Statt bei den anderen menschlichen Wesen zu schlafen, in den Zelten oder Wohnwagen, legte sich Bluey lieber zu den Tieren, in ihr winziges, scharf riechendes Heim auf Rädern. Auf diese Weise dachte er während der Nacht überhaupt nicht an Carla.
Die menschlichen Wesen waren vorwiegend Roma, aus Albanien, von ein oder zwei Dazukömmlingen wie Bluey abgesehen. Sie hatten kein fließendes Wasser, deshalb schlugen sie ihr Camp immer in der Nähe von Flüssen oder Seen auf. Der Zirkus öffnete an fünf Abenden in der Woche seine Pforten. So schäbig er auch war, es tröpfelte dennoch eine stete Menge herbei, die zum Samstag hin größer wurde. Bluey hielt sich abseits, kehrte das Quartier der Tiere und den Sitzbereich, wenn die Zuschauer fort waren. Zwei dünne Jungen im Alter von acht oder neun Jahren, das Schlangenmenschen-Duo, das zusammen dreißig Zigaretten am Tag rauchte, folgte ihm auf Schritt und Tritt. Der überwiegende Teil der Einkünfte des Zirkus ging für das billigste Bier und den billigsten Tabak der Welt drauf. Während dieser Zeit rauchte Bluey mehr Zigaretten als je in seinem Leben.
Im Herbst starben zwei der Kaninchen und die einjährige Tochter der Trapezkünstlerin, die Urenkelin der schwarzhaarigen alten Frau. Es gab Gerede im Lager, dass der Vater der Trapezkünstlerin auch der Vater des Babys war. Am Tag, nachdem der Säugling gestorben war, kam es zu einem Kampf zwischen zwei Männern, die,
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