Als würde ich fliegen
der Friedhofsmauer.
»Weil du sie noch nie gehört hast«, erwiderte er.
Doch Denise hatte die Stimme gehört. Sie glaubte, die Stimme hätte geschrien, hier, in diesem Raum, aber die Erinnerung war zu fern, und darum war sich Denise nicht sicher. In diesem Moment meldete sich ihr schlechtes Gewissen zurück, weil sie Florences Brief verbrannt hatte.
»Und das ist mir sehr recht so«, entgegnete sie.
»Vielleicht ändert es etwas, wenn du sie hörst.«
»Wag es bloß nicht.« Wie er schon dastand, mit seinem verwaschenen Stevie-Wonder-T-Shirt, seinem zotteligen Haar, wie ein ungepflegter Rasen, der dringend geschoren werden musste, dürr wie Spargel, die Füße in der Sozialhilfe-Schlange platt getreten und in der Hand ein Tonband mit einer Geisterstimme, als wäre dies der Ruf Gottes. »Bei mir muss sich nichts ändern«, sagte sie. »Bei mir geht es weiter. Ich kenne die Richtung. Wag es ja nicht, mich da reinzuziehen.« Sie wandte sich ab.
»Bitte, Denise. Hör es dir doch kurz mit mir an.«
»Nein. Ich kann nicht.« Sie stand auf und ging mit ihrer leeren Tasse zur Küchentheke. Das Boot wurde immer unangenehmer. An manchen Tagen empfand sie es nur noch als dunklen, hölzernen Tunnel, mit Spinnen an den Wänden, und nicht als ihr Zuhause. Die Gegenstände darin störten sie – Antoneys Platten, die zerschlitzte Trommel nahe der Tür. In letzter Zeit sah sie manchmal das Gesicht ihres Vaters vor sich. Dafür hasste sie Lucas. Ihren Vater hasste sie sogar noch mehr, weil er nun wieder sichtbar wurde. Der Sessel war der einzige Ort auf dem Boot, an dem sie sich nicht bedrängt fühlte. Er war, was er immer gewesen war, ein Hort unerschöpflichen Trosts, obwohl die Schatten immer näher rückten.
Mit Geschepper und Gepolter begab sie sich an den Abwasch. Der Abwasch war ein beliebtes Ausweichmanöver, aber die Spüle, die Zisterne nervten. Lucas sah ihr zu; er weigerte sich, das Thema zu wechseln. Denise trug wie gewöhnlich das lange Baumwollkleid vom Shepherd’s Bush Market, in Lucas’ Augen der passende Aufzug für ein verklemmtes viktorianisches Hausfrauchen. Ihre Ellbogen stachen aggressiv aus dem Kleid hervor.
»Du weißt irgendwas, oder?«, sagte er.
Sie passte sehr auf, keinen Fehler zu machen, nichts zu verraten. »Was soll ich wissen?«, erwiderte sie sarkastisch.
»Du verheimlichst mir was. Das seh ich.«
»Du bist paranoid.«
»Warum sträubst du dich so? Wieso bleibst du so unberührt? Als wärst du aus Stein oder so.«
»Jetzt reicht es aber.«
Sie sah ihn nicht an. Sie wischte sich die Hände an einem makellos gefalteten Geschirrhandtuch ab und ging auf den weinroten Vorhang zu, er ängstigte sie, er war voller Erinnerungen.
»Du bist genauso beschissen verklemmt wie er«, blaffte Lucas.
»Wie wer?«
»Wie Riley.«
Denise verspürte den Drang, den Vorhang herunterzureißen, doch sie beherrschte sich und hielt sich stattdessen an der Kante der Theke fest, bis ihre Fingerspitzen weiß glühten. »Wenn ich diesen Namen noch ein einziges Mal höre …«, schrie sie. »Pass auf, Lucas, ich stelle dir ein Ultimatum.«
Er trat gegen sein Bodenkissen. »Was denn fürn Ultimatum – du bisnich meine Mutter.«
Sie hatte ihm das Sprechen beigebracht. Sie hatte ihm beigebracht, dass man nicht »fürn« und »bisnich« sagte. Du bist nicht meine Mutter, bist nicht . Aber er wollte sie ja provozieren.
»Und das Ultimatum lautet wie folgt!« Sie war den Tränen nahe (bis zu diesem Tag hatte Lucas sie niemals weinen sehen). »Keine weiteren Fragen. Keine Namen, die ich nicht hören will. Werd endlich erwachsen und such dir ’nen Job – oder ein neues Zuhause.« Bevor sie den Vorhang zur Seite zerrte und sich zurückzog, blieb sie kurz stehen und sah ihn an, mit etwas Mitgefühl.
»Ich geh ins Bett. Du bist echt eine Jammergestalt.«
»Du kannst mich nich rauswerfen«, murmelte er hinter ihr her.
Also er nur, er allein. Er wartete, bis sie schlief. Es war eine Stimme, bloß eine Stimme. Ein kleiner Joint zur Beruhigung oben an Deck, in Gesellschaft der gelbäugigen Katze. Kekse und Brausedrops als eine Art letztes Abendmahl, denn etwas würde ein Ende nehmen. Die Abwesenheit würde sprechen, ihr Wesen ändern, so als würde sich ein lang erstarrter Körper in der Erde regen. Du bist frei – nichts, was du wiederholen musst – warum willst du dir das verderben? Okay, Jake, ja. Aber diese Freiheit war ein tieferes Gefängnis, ein Ort des Zweifels. Das Wissen, der Klang würden ihn seiner
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