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Als würde ich fliegen

Als würde ich fliegen

Titel: Als würde ich fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Evans
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durch die braunen Farben, den Abend. Es begann zu regnen. Er vergoss Tränen, um es dem Regen gleichzutun. Er war auf der A40, in Richtung des neuen Westways, als ihn das Wesen, das in seinem Herzen lebte, ganz plötzlich anschrie. Es war zu grässlich. Er musste es tun. Er hielt nach einem großen Fahrzeug Ausschau, einem wie der Benzinlaster, der ihn in Dänemark mitgenommen hatte. Es musste so groß und schwer sein, dass es ihn auf der Stelle zerquetschte, ganz gewisslich, ganz unausweichlich, samt der Knochen, Adern und dem Herzen, das er verloren gegeben hatte. Als das passende Gefährt auf ihn zukam, mit zwei Paar Reifen an jedem Ende, brachte er sich auf dem Seitenstreifen in Stellung. Er zählte an. Er glitt mit einem Singen, einem Taumel darunter, in dem Augenblick, als ihn der Fahrer nicht mehr sehen konnte. Als sein Onkel am nächsten Tag davon erfuhr, sagte er der Polizei: »Gestern hat er noch gearbeitet und Apfeltaschen verkauft. Mir kam er völlig normal vor.«
    Als Bluey die Augen wieder aufschlug, befand er sich auf einer anderen Straße. Auf der einen Seite lag eine Weide, auf der anderen ein Platz zwischen Häusern. Auf der Weide kniete sein Vater, neben der Hütte, in der man Blueys Mutter, von der Decke hängend, gefunden hatte. Bluey sagte all dem Lebewohl und ging in die andere Richtung, zu dem Platz, an den Ort (um Oscars Frage zu beantworten), der sein letztes Ziel wäre. Er setzte sich auf eine Bank vor ein Blumenbeet und wartete auf die unbestimmte Zukunft.
    Als Lucas an einem Abend Anstalten machte, Rileys Haus zu verlassen, sagte Riley, er habe noch etwas für ihn. Es war eine Kassette mit einem Gespräch, das er 1970 mit Antoney geführt hatte. (Antoney hatte Riley erlaubt, ihre Interviews und nächtlichen Diskussionen nach Belieben aufzunehmen.) »Ich dachte, vielleicht willst du ja seine Stimme hören«, sagte Riley. Lucas wertete das als Zeichen wachsenden Vertrauens. Aber die Vorstellung, die Stimme tatsächlich zu hören, war beunruhigend. Er nahm sie mit nach Hause und fragte Denise, ob sie sich die Stimme mit ihm anhören würde.
    Denise wusste von dem Journalisten aus Holland Park mit seinen überladenen Bücherborden und Porzellanballerinas. Sie wusste von seinem Vorhaben, seinem Archiv, der altmodischen Ausstattung, und, ganz ehrlich, damit hatte Jake wohl recht – das war seltsam. Sie wusste auch von einem Nijinsky in den Zeiten des Krieges, von seinem Sprung, seiner Schwester, dem Bruder, der aus einem Fenster gefallen war, von Charlie Chaplin und seiner Angst, in der Gegenwart Nijinskys sein komisches Talent zu verlieren, von einem Nijinsky in der Zwangsjacke, der in seiner Zelle umherspringt, der Fäkalien an die Wände schmiert. Sie wusste sogar von seinem Tirolerhut. Aber das hier ging zu weit.
    »Warum um alles in der Welt sollte ich mir seine Stimme anhören?« Sie saß in Toreths beinespreizendem Sessel. Lucas hatte sie bei der Lektüre gestört, einem Buch über Englands beste Floristen. Lucas dachte häufig, dass Denise für eine Blumenfrau nicht gerade entspannt war. Müssten Leute in ihrem Metier nicht besonders gelassen sein? Befriedet durch die Natur, von Blütenblättern besänftigt, strahlend wie eine Sonnenblume? Sollte nicht gerade sie das menschliche Bedürfnis verstehen, nach seinen Wurzeln zu forschen? Sie war neunundzwanzig und lebte das Leben einer alten Frau. Sie war noch nie in einem coolen Club, nie im Subterranea gewesen. Sie hatte noch nie Bone Thugs-n-Harmony gesehen. Sie hatte noch nie Blödsinn gemacht und mit sechzehn auf einem Parkplatz heimlich getrunken. Gut möglich, dass sie überhaupt noch nie einen Pub von innen gesehen hatte. Wollte sie denn nicht entkommen, ein Bett für sich alleine haben? In letzter Zeit widerten Lucas das Gewicht ihres Körpers auf der Matratze, ihr hauchender Atem und die Geräusche, die sie beim Anziehen machte, regelrecht an. Sie war wie ein spröder Dornenstrauch. Manchmal hatte er Lust, sie mit einem Eimer kalten Wassers zu übergießen, in der Hoffnung, dass darunter eine lockere, durchfeuchtete Denise hervorsprießen würde, eine Denise, die nicht meckerte und nörgelte und von Bausparkassen sprach, sondern eine wahre Floristin, ein freies Blumenmädchen, das die Farben und Weisheiten ihres Metiers auslebte. Der Kanal unter ihren Füßen war ruhig an jenem Abend. Es war eine einsame Sommerruhe, bestärkt von den versponnenen Leben auf der einen und dem unablässigen Zerfall des Fleischs auf der anderen Seite

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