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Also lieb ich ihn - Roman

Also lieb ich ihn - Roman

Titel: Also lieb ich ihn - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Curtis Sittenfeld
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Oberschenkeln, um auf Nummer sicher zu gehen. Sie bindet ihren Pferdeschwanz mit einem blauen Band, es erscheint ihr zu artig, da nimmt sie sowohl das Band als auch das Haargummi raus. Sie hat keine Ahnung, ob sie dem Typen auch diesmal im Park begegnen wird, aber jetzt ist es ungefähr so spät wie beim letzten Mal.
    Und wieder ist er da. Er sitzt an einem Picknicktisch – einem anderen als der, an dem sie gesessen hatte, aber in unmittelbarer Nähe. Sofort stellt sie sich die Frage, was er im Park eigentlich zu suchen hat? Dealt er mit Drogen? Auf etwa zehn Meter Entfernung treffen sich ihre Blicke, sie sieht weg und wendet sich nach links. »Hey«, ruft er. »Wo willst du hin?« Er lächelt. »Komm mal her!«
    Als sie den Tisch erreicht, deutet er einladend auf den Platz neben sich, aber Hannah bleibt stehen. Sie stellt ein |38| Bein vor das andere und verschränkt die Arme vor der Brust.
    Er sagt: »Du warst schwimmen, stimmt’s? Zeigst du mir deinen Badeanzug?«
    Das war keine gute Idee.
    »Ich wette, der steht dir«, sagt er. »Du bist nicht zu dürr. Die meisten Mädels sind zu dürr.«
    Es ist wegen ihrer nassen Haare – bestimmt glaubt er deshalb, dass sie schwimmen war. Hannah ist zugleich erschrocken, beleidigt und geschmeichelt; in ihrem Bauch breitet sich ein Gefühl von Wärme aus. Was wäre, wenn sie tatsächlich einen Badeanzug trüge und ihm den auch noch vorführen würde? Nicht hier, sondern drüben hinter den Bäumen, wenn er ihr folgte. Und was würde er dann mit ihr anstellen? Bestimmt würde er einen Annäherungsversuch wagen. Allerdings entspricht ihr Körper unter der Kleidung vermutlich nicht seinen Erwartungen – ein unbehagliches Gefühl. Ihr schlaffer Bauch, die Stoppeln zwischen den Oberschenkeln, die aus ihrer Unterhose lugen (nach dem Sportunterricht hat sie im Umkleideraum von anderen Mädchen gehört, dass sie sich jeden Tag rasieren, aber vieles vergisst sie auch wieder). Es ist nicht gesagt, dass das, was er zu sehen erhofft, ihm auch so gut gefällt wie erhofft.
    »Jetzt kann ich ihn dir nicht zeigen«, sagt sie.
    »Findest du mich versaut? Ich bin nicht versaut. Ich zeig dir mal was«, antwortet er, »und du musst dich dafür nicht mal revanchieren.«
    Sollte sie gleich vergewaltigt werden oder erwürgt, würde ihr Vater dann begreifen, dass es seine Schuld war? Ihr Herz schlägt schneller.
    Der Typ lacht. »Doch nicht das«, sagt er. »Ich weiß, was du denkst.« Dann – zwischen ihnen liegen etwa anderthalb Meter – zieht er sich das Muskelshirt über den Kopf. |39| Seine Brust ist so muskulös wie seine Arme, an den Schultern hat er einen Sonnenbrand, dort, wo Stoff die Haut bedeckte, ist sie heller. Er steht auf, dreht sich um und beugt sich vor, die Hände auf den Picknick-Tisch gestützt.
    Das also wollte er ihr zeigen: ein Tattoo. Es ist riesig und zieht sich fast über den ganzen Rücken, ein kahlköpfiger Adler mit ausgebreiteten Schwingen, im Profil, mit einem wild funkelnden Auge und offenem Schnabel, aus dem absichtsvoll die Zunge ragt. Seine Krallen sind zum Greifen bereit – aber was? Eine vorbeihuschende Maus oder womöglich den Patriotismus an sich? Es ist das größte Tattoo, das sie jemals gesehen hat, und das erste aus solcher Nähe. Ansonsten ist sein Rücken unbehaart und an manchen Stellen rissig. Besonders ausgeprägt sind die Risse am Schulteransatz, dort, wo das Tattoo endet.
    »Tut es weh?«, fragt sie.
    »Es tat weh, als ich es machen ließ, aber jetzt nicht mehr.«
    »Gefällt mir«, sagt sie.
    Nach einer Weile sagt er, fast schüchtern: »Du kannst es berühren, wenn du willst.«
    Bis der Kontakt erfolgt, bis die Kuppe ihres Zeigefingers die Haut auf seinem Rücken berührt, ist sie unschlüssig, ob sie es überhaupt tun soll. Dann aber fährt sie mit ihrem Finger über die gelben Krallen des Adlers, über die schwarzen Federn und das funkelnde rote Auge.
Das chinesische Schriftzeichen für ›Herzensstärke‹
, denkt sie. Sie fährt mit dem Finger wieder hoch, und der Typ sagt: »Das fühlt sich so sanft an.« Als ihre Hand seinen Nacken erreicht hat, sieht sie auf ihrer Uhr, dass es zehn nach drei ist.
    »O Gott«, sagt sie. »Mein Cousin!«
    Später wird sie sich nicht mehr daran erinnern, wie sie die Hand von seinem Rücken nahm oder was sie ihm |40| sonst noch sagte; schon rennt sie quer durch den Park. Rorys Bus sollte um drei ankommen, und eigentlich hat sie mit dem Typen nur ein paar Minuten verbracht, aber bis sie endlich angezogen

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