Also lieb ich ihn - Roman
Du bist keine Hilfe.« Währenddessen lief der Fernseher im Schlafzimmer in voller Lautstärke und trug zum allgemeinen Tumult bei. Vor einigen Jahren hörte Hannah damit auf, ihrer Mutter beizustehen, und ging stattdessen zu Allison ins Zimmer, doch nach dem ersten oder zweiten Mal wurde ihr klar, dass Allison Hannah lieber nicht sehen wollte, denn dadurch wurde sie mit dem Geschehen konfrontiert. Inzwischen bleibt Hannah in ihrem Zimmer. Sie setzt sich Kopfhörer auf und liest Zeitschriften.
In der Nacht, in der sie aus dem Haus gejagt wurden, war Hannah gegen halb zwölf aufgewacht, weil ihre Eltern sich stritten. Ihre Mutter hatte die letzten Nächte nicht im Gästezimmer verbracht, doch jetzt wollte ihr Vater, dass sie dort übernachtete. Sie weigerte sich. Nicht entschieden, sondernd flehentlich. »Aber ich liege doch schon im Bett«, hörte Hannah. »Ich bin so müde. Bitte, Douglas.«
Danach wollte er sie nicht nur aus dem Zimmer, sondern ganz aus dem Haus haben. Wo sie bleiben sollte, war ihm egal – das war ihre Angelegenheit. Er sagte, er sei es leid, dass sie ihm so wenig Achtung entgegenbringe, bei allem, was er für die Familie leiste. Und sie sollte die Mädchen ruhig mitnehmen, die ihn noch geringer schätzten als sie. »Du hast die Wahl«, sagte er. »Entweder du teilst ihnen mit, dass sie hier verschwinden müssen, oder ich wecke sie selbst auf.« Sofort rief ihre Mutter Allisons und Hannahs Namen, sie sollten sich beeilen, und es sei egal, dass sie keine Straßenkleidung trügen. Das war am Donnerstag. Am nächsten Morgen ging Hannah nicht in die Schule – ihre Mutter nahm sie mit zu Macy’s, um ihr Kleider zu |36| kaufen –, und am Samstag saß sie im Greyhound nach Pittsburgh.
Und das ist genau das Problem: Hannah hat den Verdacht, dass es sich ihre Mutter und Allison gerade gutgehen lassen. Als sie das letzte Mal mit ihrer Schwester sprach, sagte Allison: »Aber wie geht es
dir
? Sind Elizabeth und Darrach nett zu dir?« Bevor Hannah antworten konnte, rief Allison: »Fig, mach das Radio leiser! Ich kann Hannah ja kaum verstehen.« Vielleicht ähnelt es der Situation, wenn ihr Vater auf Geschäftsreisen ist und sich mit einem Schlag alles entspannt. Abendessen gibt es spontan um fünf oder um neun; entweder essen sie bloß Käse und Kräcker oder eine Pfanne gebackene Rice Krispies, die sie in drei Portionen teilen und noch am Herd im Stehen vertilgen; sie sehen zu dritt fern, gemeinsam, anstatt sich jeweils in ihre Zimmer zurückzuziehen. Diese Entspannung kommt ihnen trügerisch vor, nicht von ungefähr, da sie zeitlich begrenzt ist. Wer weiß, vielleicht hat ihre Mutter gemerkt, dass es immer so sein könnte, seit sie bei Hannahs Tante und ihren Cousins wohnt. Diese Schlussfolgerung ist weder falsch noch unvernünftig, und dennoch – solange Hannah und Allison und ihre Eltern alle gemeinsam unter einem Dach leben, sind sie noch eine Familie. Nach außen hin völlig normal, vielleicht sogar beneidenswert: Sportlicher Vater, nette, attraktive Mutter, hübsche ältere Schwester, die gerade zur stellvertretenden Vorsitzenden des Studentenrates gewählt wurde, und jüngere Schwester, die sich bisher noch nicht besonders hervorgetan hat, zugegebenermaßen, doch Hannah hofft, dass ihre Vorzüge noch zur Geltung kommen. Vielleicht wird sie sich in der High School dem Debattierclub anschließen und dann bald zu nationalen Wettbewerben nach Washington, D. C., eingeladen werden, wo sie Begriffe wie
inkommensurabel
verwenden kann. Ihr Zusammenleben in |37| diesem Haus ist nicht
so
schlecht, nach außen hin wirkt es alles andere als schlecht, und selbst wenn ihre Tanten und Cousins auf beiden Seiten wissen, wie es in Wirklichkeit steht, fällt es nicht ins Gewicht. Immerhin gehören sie zur Familie. Und die anderen, die anständigen Leute wissen von nichts.
Hannah soll Rory von der Bushaltestelle abholen, wenn er von der Schule kommt. Sonst holt ihn immer Mrs. Janofsky ab, eine achtundsechzig Jahre alte Nachbarin von gegenüber, aber Elizabeth meint, Rory halte sich nicht gern bei ihr auf, darum würde Hannah allen einen riesigen Gefallen tun. Vielleicht stimmt es, vielleicht möchte Elizabeth Hannah auch nur ein wenig beschäftigen.
Eine Stunde vor Ankunft des Busses – Hannah hat immer wieder auf die Uhr gesehen – geht sie heute schon zum zweiten Mal unter die Dusche, putzt sich die Zähne und trägt Deodorant auf, nicht nur unter den Achseln, sondern auch in Schrittnähe, an den
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