Also lieb ich ihn - Roman
wirkliche Leben. Allerdings wird Hannah ihr Augenmerk nicht länger auf das Leben von Julia Roberts richten, es sei denn, sie blättert im Wartezimmer einer Zahnarztpraxis oder beim Kasseanstehen im Supermarkt in der einen oder anderen Zeitschrift. Sie wird ihre Zeit nicht mehr an Stars verschwenden. Nicht etwa, weil ihr das inzwischen zu oberflächlich erscheint – natürlich ist es oberflächlich, so wie die meisten Dinge –, sondern weil sie dafür zu beschäftigt ist. Sie ist erwachsen geworden. Dabei wird sich Hannah im Alltag gar nicht so grundlegend anders fühlen als mit vierzehn – wenn es nicht diese Zeichen gäbe: Früher wusste sie fast alles über Julia Roberts, heute weiß sie so gut wie nichts.
In ferner Zukunft wird Hannah mit einem Jungen namens Mike zusammen sein, dem sie von ihrem Vater erzählen wird. Sie wird ihm erklären, dass sie die Umstände ihrer Kindheit und Jugend bis zur Scheidung keineswegs bedauert, dass sie ihr in gewisser Weise nützlich erscheinen. In derart unberechenbaren Verhältnissen aufzuwachsen, lässt einen schnell erkennen, dass die Welt nicht auf die eigenen Bedürfnisse zugeschnitten ist, und es ist Hannah aufgefallen, wie schwer es vielen Menschen fällt, das zu begreifen, selbst wenn sie schon längst erwachsen sind. Man weiß, wie schnell eine Situation kippen kann und dass überall Gefahren lauern. Wenn es dann allerdings zur Krise kommt, trifft es einen nicht unvorbereitet; nie hat man sich in der trügerischen Vorstellung eines allumfassenden Wohlwollens gewiegt. Hinzu kommt, dass man nach einer solch stürmischen Kindheit Ruhe zu schätzen weiß und keinen Trubel braucht. Am Samstagnachmittag den Küchenboden zu wischen und dabei im Radio einer |46| Oper zu lauschen, später mit einem Freund indisch essen zu gehen und um neun Uhr abends wieder zu Hause zu sein – mehr braucht es nicht. Es ist ein Geschenk.
Bei einer Gelegenheit wird Hannahs Freund in Tränen ausbrechen, als sie ihm von ihrem Vater erzählt, sie aber wird nicht weinen. Ein anderes Mal wird er ihr das Stockholm-Syndrom attestieren, da er allerdings Psychologie im Hauptfach studiert, wird Hannah ihn für befangen erklären. Beim Sex wird sich Hannah einen bestimmten Teil von Mikes Rücken einprägen, den Teil, den sie über seine linke Schulter hinweg sehen kann, und manchmal, kurz bevor es bei ihr vielleicht zum Höhepunkt kommt, wird sie sich vorstellen, dass unmittelbar außerhalb ihres Sichtfelds ein gewaltiger Adler tätowiert ist; und sie wird mit den Fingern über die Stelle fahren, an der sich das Tattoo befinden sollte. Den Typen mit dem echten Tattoo hat sie seit jenem Tag, an dem sie Rory warten ließ, nie wieder gesehen. Obwohl sie damals noch zwei Monate bei ihrer Tante wohnte, kehrte sie kein einziges Mal in den Park zurück.
Doch in diesem Moment sitzt die vierzehnjährige Hannah auf den Stufen so dicht an Elizabeth, dass sie die Krankenhausseife riechen kann, mit der ihre Tante sich die Hände gewaschen hat. Die Einkaufstüten liegen dort, wo Elizabeth sie fallen gelassen hat. Rory schaut aus der Haustür und möchte unbedingt ins Schwimmbad, danach werden sie, weil Darrach unterwegs ist, zum Abendessen Wantan-Suppe, Huhn mit Cashewnüssen und Rind mit Brokkoli bestellen. »Lassen sich meine Eltern scheiden?«, fragt Hannah. »Sie lassen sich doch bestimmt scheiden, oder?«
»Du musst einfach begreifen, wie schwach die meisten Männer sind«, sagt Elizabeth. »Nur dann kannst du ihnen auch vergeben.«
|47| TEIL II
|49| 2
Februar 1996
Sie haben vereinbart, Hannah um neun Uhr abends abzuholen, aber um fünf vor neun ruft Jenny an und teilt ihr mit, dass sie es wohl nicht vor neun Uhr dreißig oder Viertel vor zehn schaffen werden. Sie erklärt, Angie sei erst spät von der Arbeit gekommen und müsse noch unter die Dusche. (Hannah weiß nicht, von welcher Arbeit die Rede ist.) »Tut mir echt leid«, sagt Jenny.
Hannah sitzt am Schreibtisch. Sie dreht sich um und lässt den Blick durch ihr Studentenwohnheimzimmer schweifen: ein Stapel Zeitungen fürs Altpapier, mittlerweile so hoch, dass er wie eine Ottomane wirkt; die Schuhe, die Hannah an einer Wand aufgereiht hat; die Truhe, die sie als Nachttisch benutzt und auf der ein Plastikbecher voller Wasser steht; schließlich ihr Bett, das sie erst vor wenigen Minuten gemacht hat, obwohl es Abend ist, bloß weil sie schon ausgehfertig war und mit ihrem Überschuss an Energie nichts anderes anzustellen wusste. Beim Anblick dieses
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