Also lieb ich ihn - Roman
Betts, mit den aufgeschüttelten Kissen und der glattgestrichenen, in Flanell gehüllten Daunendecke, würde Hannah Jenny am liebsten antworten, dass sie gar nicht mehr vorbeizukommen brauchen, da sie heute Abend einfach hierbleiben wird. Binnen zehn Minuten würde sie einschlafen – sie müsste vorher bloß ans Ende des Ganges, um sich das Gesicht zu waschen, dann in ihren Pyjama schlüpfen, Lippenbalsam auftragen und das Licht ausmachen. Sie ist es gewohnt, so früh ins Bett zu gehen. Es ist vielleicht ein bisschen merkwürdig, niemand sonst am College würde so etwas tun, aber sie schon.
|50| »In einer halben oder dreiviertel Stunde sind wir da«, sagt Jenny.
Die Worte liegen ihr auf der Zunge:
Weißt du was, ich bin schon ziemlich müde
. Hier könnte Hannah ein Verständnis heischendes Lachen einbauen.
Ist wohl besser, wenn ich hierbleibe. Tut mir leid, dass ich euch so hängenlasse. Trotzdem vielen Dank, dass ihr mich gefragt habt. Ihr müsst mir dann unbedingt erzählen, wie’s war. Es wird bestimmt ein toller Abend.
Wenn Hannah jetzt den Mund öffnet, springen die Worte im hohen Bogen raus und sausen durch die Telefonleitung quer über den Campus in Jennys Ohr, dann muss Hannah nicht mit. Jenny wird nett reagieren – sie ist nett – und Hannah möglicherweise überreden wollen, doch noch mitzukommen, wenn Hannah aber standhaft bleibt, wird Jenny nicht weiter darauf beharren. Und sie werden keine echte Freundschaft mehr schließen, weil Hannah sich so komisch benommen und in letzter Sekunde gekniffen hat, als sie zusammen in den Westen von Massachusetts fahren wollten. Und wieder wird Hannah einen Abend mit Nichtstun verbringen, schlafend. Um dann morgens um sechs aufzuwachen, während auf dem Campus noch Dunkelheit und Stille herrschen und die Mensa am Wochenende noch volle fünf Stunden geschlossen ist. Sie wird unter die Dusche gehen, Trockenmüsli aus der Schachtel essen, die sie auf dem Fensterbrett aufbewahrt, mit den Hausaufgaben beginnen. Wenn sie nach einer Weile mit marxistischer Theorie durch ist und zur Evolutionsbiologie übergeht, wird sie mit einem Blick auf die Uhr feststellen, dass es sieben Uhr fünfundvierzig ist – erst sieben Uhr fünfundvierzig! – und bis jetzt niemand sonst aufgewacht ist oder bald aufwachen wird. Sie wird dasitzen mit gekämmten nassen Haaren, strahlend sauber, Seite um Seite in ihren Lehrbüchern mit Anstreichungen versehen und sich kein bisschen fleißig |51| oder produktiv vorkommen, sondern Panik verspüren. Der Morgen wabert wie graue Luft, die sie allein ausfüllen muss. Wen kümmert es, dass sie sich die Haare gewaschen oder sich gerade mit pathogenen Populationsstrukturen beschäftigt hat? Für wen hat sie sich die Haare gewaschen, mit wem kann sie sich über pathogene Populationsstrukturen austauschen?
Fahr mit
, sagt sich Hannah.
Du solltest mitfahren.
»Ich warte dann am Haupteingang«, sagt sie zu Jenny.
Nachdem sie aufgelegt hat, weiß sie wieder nicht recht, was sie tun soll, genau wie vor Jennys Anruf. Sie sollte auf keinen Fall Hausaufgaben machen – entweder kann sie sich dann nicht konzentrieren oder vertieft sich im Gegenteil derart, dass sie gar nicht mehr in Stimmung ist. Ohnehin verliert sich diese Stimmung gerade, die in Hannah aufgekommen ist, als sie unter der heißen Dusche stand und erst ihr linkes Bein ausstreckte, um sich mit dem Rasierer über die Wade zu fahren, dann das rechte. Danach hatte sie das Radio im Zimmer voll aufgedreht und sich vor den Schrank gestellt, um ihre Kleider durchzugehen. Sie zog zwei schwarze Oberteile heraus, probierte zunächst das eine, dann das andere an und stellte sich vor, zu welchem ihre Cousine Fig ihr raten würde. (Hannah ist Freshman in Tufts und Fig Freshman an der Boston University.) Fig hätte ihr zu der engen Variante geraten.
Am liebsten würde Hannah sich jetzt die Nägel lackieren oder schminken, mit gespitztem Mund vor dem Spiegel stehen und sich eine fettige, glänzende rosa Substanz auf die Lippen schmieren, aber weder besitzt sie Nagellack, noch schminkt sie sich. Wenn sie wenigstens eine Frauenzeitschrift zur Hand hätte, um zu lesen, wie andere sich schminken. Stattdessen hat sie einen Nagelknipser – nicht gerade glamourös, aber immerhin etwas. Sie setzt |52| sich wieder auf ihren Schreibtischstuhl, zieht den Papierkorb zu sich heran und steckt den ersten Nagelrand zwischen die Schneiden des Knipsers.
Das nimmt nicht viel Zeit in Anspruch. Als sie fertig ist, steht sie
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