Also lieb ich ihn - Roman
auf und betrachtet sich von der Seite im großen Spiegel, der innen an der Zimmertür angebracht ist. Dieses Oberteil steht ihr gar nicht so gut. Die Ärmel liegen zu eng an, dafür fällt es lose über den Busen – so war das nicht gedacht, eng ist sowieso relativ, verglichen mit dem, was die anderen Mädchen wahrscheinlich tragen werden. Hannah zieht doch das andere Oberteil an.
Im Radio endet gerade ein Song, und der DJ sagt: »Was bringt Freitagabend so richtig Spaß? Gleich mehr der größten Hits unserer Zeit, stay tuned!« Darauf folgt Werbung für einen Autohändler, Hannah dreht das Radio leiser. Sie hört viel Radio, sogar beim Lernen, aber so gut wie nie Freitag oder Samstag abends: wegen des vorfreudig vibrierenden DJ-Tonfalls. Jeden Freitagnachmittag um fünf bringt der Sender einen Song mit den Zeilen »I don’t want to work/I just want to bang on the drum all day«, für Hannah das Signal, ihr Radio auszuschalten. Sie stellt sich vor, wie in Boston die männlichen und weiblichen Angestellten ihre Büros verlassen, ihre Autos aus der Garage fahren oder in Nahverkehrszüge springen. Falls sie noch in ihren Zwanzigern sind, werden sie Freunde anrufen und sich in Bars verabreden, die Familien in den Vorstädten werden Spaghetti kochen und Videofilme ausleihen (die Familien beneidet sie am meisten), und vor allen erstreckt sich das Wochenende, erholsame Stunden des Leerlaufs. Sie werden ausschlafen, ihre Autos waschen, Rechnungen begleichen, eben das, was die Leute so zu tun pflegen. Manchmal nimmt Hannah freitags Hustensaft ein, um noch früher zu schlafen als ohnehin schon, einmal bereits nachmittags um halb sechs. Das ist wahrscheinlich nicht |53| ratsam, aber es handelt sich ja nur um Hustensaft, nicht um Schlaftabletten.
Und so kommt es ihr heute Abend seltsam vor, an diesem DJ-Universum teilzuhaben, tatsächlich auszugehen. Sie schaut auf die Uhr und beschließt, gleich nach unten zu gehen. Sie streift sich den Mantel über, steckt die Hand in die Tasche – alles da, Lippenbalsam, Kaugummi, Schlüssel – und wirft einen letzten Blick in den Spiegel, bevor sie aus der Tür tritt.
Sie verspäten sich, wie Hannah es erwartet hat. Sie liest die Campuszeitung, erst die heutige Ausgabe, dann die gestrige, danach liest sie die aktuellen Kleinanzeigen. Andere Studierende durchqueren die Eingangshalle des Wohnheims, einige sind offenbar schon betrunken. Bei einem hängt die viel zu große Jeans so tief, dass hinten gut fünfzehn Zentimeter seiner Boxer Shorts herausragen. »Was geht ab?«, fragt er sie im Vorbeigehen. Sein Begleiter hält eine Flasche, die in einer Packpapiertüte steckt. Er grinst sie an. Hannah sagt nichts. »Yo, das ist cool«, sagt der erste.
Sie sitzt auf einer Bank, alle paar Minuten steht sie auf, läuft zum Fenster neben der Eingangstür und presst ihr Gesicht an die Scheibe, um in die Dunkelheit hinauszuspähen. Als das Auto vorfährt, steht sie gerade wieder am Fenster; sie erkennt das Auto nicht, aber dann winkt ihr Jenny vom Beifahrersitz aus. Hannah tritt vom Fenster zurück und zieht den Reißverschluss an ihrem Mantel zu. Während sie noch vor der Tür steht, einer massiven Tür aus dunklem Holz, unsichtbar für die anderen, denkt Hannah, dass sie sich jetzt ducken und auf allen vieren zurückgehen und die Treppen hinaufhuschen könnte; bis eine von ihnen auf die Idee käme nachzusehen, wäre sie schon längst verschwunden.
»Hey«, sagt Jenny, als Hannah draußen ist. »Tut mir leid, dass wir so spät dran sind.«
|54| Als sie in das Auto steigt, wird Hannah von Musik und Zigarettenrauch und dem cremigen, parfümierten Geruch von Mädchen erschlagen, die für ihre Pflege mehr Aufwand betreiben als sie.
Jenny wendet sich vom Beifahrersitz nach hinten. »Das ist Kim.« Jenny weist auf die Fahrerin, ein winziges Mädchen mit kurzen dunklen Haaren und Brillantohrsteckern, das Hannah noch nie gesehen hat. »Und das ist Michelle, und Angie kennst du ja schon?« Angie teilt mit Jenny ein Zimmer, Hannah hat sie kennengelernt, als sie mit Jenny zusammen büffelte. In Jennys Zimmer ist sie auch Michelle begegnet, die jetzt aber sagt: »Freut mich, dich kennenzulernen.«
»Michelle hat diesen Freund, der an der Tech studiert«, sagt Jenny. »Und was hast du so getrieben? Hast du dich inzwischen vom Statistik-Test erholt? Wenn ich den bestehe, egal wie, muss das gefeiert werden.«
Hannah und Jenny kennen sich vom Statistik-Kurs, auch wenn sie davor beim Zeltausflug, der den
Weitere Kostenlose Bücher