Also lieb ich ihn - Roman
während alle anderen zu Auftritten von studentischen Improvisationsgruppen oder A-cappella-Chören strömten, weil sie keine Lust hatte, weil sie Improvisationstheater und a cappella albern fand. (Später kam ihr das wie eine lahme Ausrede vor.) Samstagnachmittags fuhr sie mit dem Zug zu Figs Wohnheim an der Boston University und hing dort ab, während sich ihre Cousine für Studentenverbindungs-Partys zurechtmachte. Abends kehrte Hannah gegen acht nach Tufts zurück, in ihrem Wohnheim war es still, von dem einen oder anderen Zimmer abgesehen, in dem es hoch herging und an dem sie vorbeihastete. Für sich genommen, war jede einzelne ihrer Verhaltensweisen harmlos, doch in der Summe führten sie dazu, dass Hannah außen vor blieb. Als es Oktober wurde, konnte sie schon nicht mehr mit, wenn die anderen sich vergnügten, nicht etwa, weil sie es nicht gewollt hätte, sondern weil sie es einfach nicht über sich brachte. Was hätte sie ihnen schon zu sagen gehabt? Im Grunde hatte sie niemandem etwas zu sagen. So vergingen fünf Monate, die längsten in ihrem Leben, bis sie auf Jenny traf.
So weit Hannah es beurteilen kann, ist an Jenny nichts Außergewöhnliches, abgesehen von ihrem Umgang mit Hannah. Jenny begreift scheinbar gar nicht, dass sie Hannahs einzige Freundin ist. Während ihrer letzten Übungsstunde hatte sie gesagt: »Ein paar von uns fahren am Freitag nach Springfield. Meine Freundin Michelle hat auf der High School einen Typen kennengelernt, der jetzt in Springfield Maschinenbau studiert, an seiner Uni beträgt der Männeranteil mindestens neunzig Prozent.« Jenny zog die Augenbrauen hoch, gleich zweimal, und Hannah lachte, um den Erwartungen zu genügen. »Komm doch mit«, schlug sie vor. »Vielleicht wird das ein Reinfall, aber ein |58| bisschen Abwechslung kann nicht schaden. Und von den Jungs hier habe ich die Nase voll.« Davor hatte sie Hannah von ihrer Liebschaft mit einem Typen erzählt, der zwei Türen weiter wohnt; Jenny schläft mit ihm, wenn sie beide am Ende einer Party besoffen genug sind, obwohl er in ihren Augen ein Mistkerl ist und sie ihn nicht einmal richtig sexy findet. Ihrem forsch-fröhlichen Ton nach ging Jenny davon aus, dass Hannah solche Verwicklungen aus eigener Anschauung kannte, und Hannah beließ sie in dem Glauben. In Wahrheit hat sie noch nie etwas mit einem Jungen gehabt, nicht das kleinste bisschen. Nicht mal einen geküsst. Dieser Typ mit dem Adler-Tattoo – mehr kann sie nicht aufbieten. Mit achtzehn noch so unerfahren zu sein, verleitet Hannah dazu, sich abwechselnd für abnorm oder bemerkenswert zu halten, als müsse man sie hinter Glas verwahren und von Wissenschaftlern untersuchen lassen. In potentiell gefährlichen Situationen – Turbulenzen auf dem Heimflug, beispielsweise – fühlt sie sich allerdings unverwundbar. Hannah ist der Überzeugung, dass es ein grober Verstoß gegen die Naturgesetze wäre, wenn sie nach überstandener High School ungeküsst sterben müsste.
Als sie in die Straße einbiegen, die vom Campus wegführt, läuft im Radio der Song einer Rapperin; Angie, die zwischen Michelle und Hannah sitzt, langt zwischen die Vordersitze und dreht die Musik lauter. Im Song dreht sich alles darum, dass die Rapperin nichts mit Männern zu tun haben will, die sie nicht oral befriedigen. Das ist ein anderer Sender als der, den Hannah hört, aber dieser Song ist ihr aus benachbarten Zimmern bereits zu Ohren gekommen. Offenbar kennen Angie und Michelle jede Zeile auswendig, sie singen aus voller Kehle mit, wackeln dazu mit den Köpfen und schütteln sich vor Lachen.
Die Rückbank ist schmal, Hannahs Schenkel drückt gegen |59| Angies Schenkel. Hannah zieht sich den Sicherheitsgurt über die Schulter und tastet zwischen sich und Angie nach dem Verschluss. Vergeblich. Schließlich gibt sie auf. Vor ihrem inneren Auge entsteht sofort ein schauriges Spektakel aus zerquetschtem Metall, geborstenem Glas und Blut. Das Ganze scheint für einen Unfall wie geschaffen – junge Frauen, die einen draufmachen wollen, eine lange Fahrt in winterlicher Dunkelheit. In diesem Fall könnte sogar die Unverwundbarkeit der ungeküssten Hannah aufgehoben sein. Die geballten sexuellen Erfahrungen der vier anderen Mädchen dürften ihre Unschuld locker überdecken.
Jenny zündet eine Zigarette an und reicht sie an Kim weiter, dann zündet sie eine für sich an. Sie hat ihr Fenster ein paar Zentimeter weit geöffnet; wenn sie die Asche rausschnippt, betrachtet Hannah Jennys glatte,
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