Also lieb ich ihn - Roman
der klaren Luft, dem Wind, der durch hohe Gräser fährt, mit der tiefstehenden Sonne, die sich in den winzigen Wellen bricht, wenn sie gegen die Felsen schlagen. Und trotzdem fühlt sie sich so dumm; Gedanken über die eigene Bedeutungslosigkeit sind per se bedeutungslos. Außerdem schließt atemlose Bewunderung die Angst nicht aus.
Etwa fünfzig Meter vom Wasser entfernt bauen sie die Zelte auf. »Wenn du mir einfach erklärst, wie man das macht«, sagt Hannah zu Elliot. Er reicht ihr die zusammengelegten Stangen, die im Innern mit einem Gummiband verbunden sind. Die Art und Weise, wie die Metallteile zusammengesteckt werden, wie aus etwas Geknicktem etwas Gerades wird, erinnert sie an den Zauberstab bei kindlichen Magierspielen. Der Boden ist weich, so lassen sich die Heringe leicht reindrücken. Als Hannah auf Knien in das türkisfarbene Zelt kriecht, um keinen Dreck hineinzutragen, sieht sie, wie das Licht durch das Nylon hindurch einen bläulichen Schatten auf ihre Unterarme wirft. An der Rückseite des Zelts hat Elliot einen Reißverschluss geöffnet und damit den Blick auf ein transparentes Dreieck freigegeben – ein Fenster –, was Hannah rührend häuslich erscheint. Es ist fast so, als hätte er ein Windspiel aufgehängt oder einen Briefkasten aufgestellt, der mit ihren Namen beschriftet ist, damit Allison oder Sam jederzeit einen Brief loswerden können. Hannah wirft die zusammengerollten Schlafsäcke ins Zelt, die Rucksäcke lehnen sie gegen Bäume.
Vor Morgenanbruch werden sie nicht Kajak fahren. |149| Zum Abendessen kochen die Brüder Käse-Makkaroni mit gehackten Tofuwürstchen. »Lasst die Tofuwürstchen in Hannahs Portion weg«, sagt Allison. »Sie kann die Konsistenz nicht ab.« Nachdem sie alles andere weggeräumt haben, hängt Sam den Proviant an einen Baum. Die Brüder spielen Schach auf einem winzigen Magnetbrett, während Allison am Strand sitzt und in ihr Tagebuch schreibt. Da Hannah nichts mit sich anzufangen weiß, geht sie ins Zelt, zieht lange Unterhosen und ein anderes T-Shirt an und schlüpft in ihren Schlafsack. Im schwindenden Tageslicht liest sie einen Kriminalroman, den Allison im Flugzeug ausgelesen hat, allerdings muss Hannah ständig zurückblättern, weil sie zwischendurch einnickt. Vierzig Minuten später kommt Elliot ins Zelt. Zur Begrüßung gibt er eine Art einsilbiges Geräusch von sich. Dann streift er sich T-Shirt und Vliesjacke über den Kopf, mit dem Rücken zu Hannah, die seine goldene Haut bemerkt, seine schmalen, aber sehnigen Arme. Er zieht sich auch die Jeans aus und steigt in grauen Boxershorts in seinen Schlafsack.
»Du machst gerade deinen Doktor in Neurowissenschaften, oder?«, fragt Hannah. »Das heißt aber nicht unbedingt, dass du Arzt wirst?«
»Ich gehe in die Forschung; Lehre wohl auch, aber ich werde niemals als Chirurg arbeiten, wenn du das meinst.«
»Hast du ein bestimmtes Thema?«
»Ich bin Mitglied einer Forschungsgruppe, in der untersucht wird, wie verschiedene Teile des Gehirns auf Stress reagieren. Zurzeit befassen wir uns mit der Amygdala, aber das wird dir kaum ein Begriff sein.«
»Es kommt mir bekannt vor.«
Darauf folgt eine lange Pause.
Na prima
, denkt Hannah.
Ist auch egal.
Endlich sagt Elliot: »Du studierst doch in Tufts?«
|150| »Ja, bald beginnt mein Abschlussjahr. Diesen Sommer habe ich in einer Werbeagentur ein Praktikum gemacht. Mir gefällt es gut in Boston. Es stimmt schon, die Autofahrer dort sind das Letzte, aber da ich kein Auto hab, macht es mir nicht soviel aus.«
»Ich kenne Boston. Ich habe in Harvard Jura studiert.«
»Wow – auf die faule Haut hast du dich nicht gerade gelegt.«
Darauf antwortet er nicht. Weil sie aber beide auf dem Rücken liegen, fällt es Hannah schwer, sich nicht für einen Moment vorzustellen, er sei ihr Ehemann. Es liegt an dieser Mischung aus physischer Nähe und Alltäglichkeit, die das Gegenteil ist von physischer Nähe und Erotik; in ihrem ersten Studienjahr hatte sie zufällig einem Typen namens Vikram, Hausgast in ihrem Wohnheim, beim Einkauf von Lebensmitteln für das Semesterfest geholfen, und es war so ähnlich gewesen. Sie fühlte sich nicht zu Vikram hingezogen, aber sie gingen eben mit dem Einkaufswagen Seite an Seite die Gänge im Supermarkt ab und tauschten sich über die Produkte aus, die vielleicht in Frage kamen:
Warum sind die Trauben so teuer? Die Brezeln lieber gesalzen, oder was meinst du?
Elliot rollt sich auf die Seite, mit dem Rücken zu Hannah.
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