Also lieb ich ihn - Roman
wie eine Idiotin; wie hatte sie annehmen können, dass er sich für ihren Taillenumfang interessiert?
Elliot zeigt auf Hannahs Pfefferspray. »Ist dir eigentlich klar, dass eh alles vorbei ist, wenn du dem Bären nahe genug kommst, um diese Dose einzusetzen? Es sei denn, du bist treffsicher wie ein Superheld.«
»Ist doch egal«, sagt Sam gelassen. »Soll sie sie halt mitnehmen, wenn ihr danach ist.«
Allison nimmt Hannah die Glocke aus der Hand, hält sie hoch und bimmelt damit. »Ho, ho, ho«, sagt sie. |146| »Frohe Weihnachten.« Dann dreht sie sich zu Sam: »Warst du dieses Jahr auch schön brav, mein Junge?«
Unterwegs versorgen sie sich in einem Lebensmittelgeschäft mit Proviant, dann nehmen sie den Zug nach Ander. Dort werden sie die Kajaks abholen, bevor sie am späten Nachmittag mit einem Charterschiff zum Prince William Sound weiterfahren. Ander besteht aus einer Ansammlung kleiner Häuser, die sich in unregelmäßigen Abständen über knapp eine halbe Meile erstreckt – ein Lebensmittelgeschäft, ein paar Restaurants, gleich mehrere Kajak-Verleiher – neben außer Betrieb genommenen oder einfach stehengelassenen Eisenbahnwaggons und einem riesigen Gebäude aus rosa Stuck, einem ehemaligen Armeebunker, in dem heute angeblich zwei Drittel der dreihundert Einwohner leben. Hinter diesen Häusern ragt eine zerklüftete Bergkulisse auf, hier grün und da mit Schnee bedeckt; vor ihnen erstreckt sich blau der Anfang vom Prince William Sound, auf der anderen Seite des Wassers sieht man weitere schneebedeckte Gipfel. Obwohl die Sonne scheint, sind lauter Pfützen im matschigen Schotter, aus dem die Straßen dieser Stadt bestehen.
Um halb vier nehmen sie ihr Mittagessen ein, Lachsburger für alle mit Ausnahme von Allison, die als Vegetarierin Spaghetti bestellt. Die Kellnerin scheint betrunken zu sein; sie ist um die Vierzig, mit strähnigen Haaren und einem toten Frontzahn. Aufgekratzt erzählt sie ihnen, sie stamme aus Corvallis, Oregon, sei vor vier Jahren hergezogen, einfach so, und habe vor zwei Monaten den Koch geheiratet, in den gleichen Jeans, die sie heute trägt, hier in diesem Restaurant. Und nun wohne sie mit ihrem Mann im vierten Stock des Bunkers. Sie vergisst, was Alice bestellt hat, und kommt noch mal zurück, während Hannah den merkwürdigen, wenn auch durchaus vertrauten |147| Wunsch verspürt, diese Kellnerin zu
sein
, vierzig zu sein und auf entspannte Weise unattraktiv, in einer komischen Kleinstadt in Alaska zu leben, mit einem Schnellimbiss-Koch, der sie von Herzen liebt. Ebenso sehr wünschte sie sich, nicht aufs Wasser zu müssen, um den Bären entgegenzuschippern.
Nach dem Essen laufen sie bis zum Ende des Kais und gehen an Bord eines Schiffes, das auf dem Weg nach Norden zum Harriman Fjord mächtige Wellen schlägt. Der Kapitän ist ein imposanter älterer Mann mit Bart; die anderen unterhalten sich mit ihm, Hannah jedoch nicht, sie sitzt an der Reling, Wind bläst ihr ins Gesicht und lässt ihre Haut taub werden. Nach einer Stunde drosselt der Kapitän den Motor, so gleiten sie auf einen Felsenstrand zu. Dahinter wachsen Farn und Beerensträucher sowie riesige Teufelskeulenbüsche, dahinter wiederum Fichten und Erlen und hinter diesen Bäumen erhebt sich ein Gletscher. Der erste, den sie in ihrem Leben zu sehen bekommen, er ist mit einem Berg verwachsen und bedeckt eine Fläche von etwa 0,75 Hektar. In Hannahs Vorstellung waren Gletscher klar wie Wasser, sie glitzerten und hatten fein säuberliche Kanten, glichen also einem überdimensionierten Eiswürfel, aber was sie jetzt vor Augen hat, ähnelt eher einem schmutzigen, unförmigen Schneehaufen. Hinzu kommt ein leichter Blaustich, als habe man den Haufen mit Glasreiniger besprüht.
Die Kajaks haben sie vorhin auf dem Schiffdach vertäut, jetzt klettert der Kapitän verblüffend behände hoch, um ihnen die Boote nach unten zu reichen. Behutsam lehnen sie die Kajaks gegen die Felsen, bevor sie mit ihren schwarzen Gummistiefeln durch das seichte Wasser zurückwaten, um ihre Rucksäcke zu holen. Der Kapitän fährt wieder ab. Alles kommt ihnen so gewaltig vor, das Meer und der Himmel und die Berge und der endlos |148| lange, menschenleere Felsenstrand. Hannah kann gar nicht fassen, dass es diese Dinge, all diese Dinge, wirklich gibt. Dass es sie gibt, während Hannah die Kinder des Professors hütet oder mit Jenny auf dem Campus Frozen Joghurt isst. Wie fern und belanglos ihr das jetzt erscheint. Denn die Welt ist hier, mit
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