Alte Feinde Thriller
Arzneischrank gefunden, Grandpa. Ich hab ein paar davon genommen. Das ist kein Tylenol, so viel weiß ich.«
Die rechte Hand meines Großvaters zuckte unmerklich, und einer seiner knorrigen Finger tippte gegen eine Infusionsflasche. Er hatte die Augen geschlossen, doch unter den Lidern bewegten sie sich schnell hin und her.
Vielleicht konnte er mich tatsächlich hören.
»Hast du sie auch geschluckt?«
Keine Antwort.
»Haben sie dich ins Jahr 1972 zurückbefördert?«
Keine Antwort.
»Hast du darum in den letzten Jahren niemanden von uns besucht? Warst du damit beschäftigt, in die -«
Plötzlich öffnete sich hinter mir die Tür, und eine Schwester stürmte herein. Sie hatte ihr platinblondes Haar zu einer Igelfrisur hochgegelt, und wahrscheinlich bliebe sie damit in der Decke stecken, wenn sie einen Luftsprung machte. Die Schwester beachtete mich gar nicht, sondern wandte sich den Geräten zu, die meinen Großvater überwachten. Ich war bloß ein Besucher, also nicht weiter wichtig. Sie musste ihre Arbeit erledigen, die Schicht zu Ende bringen.
Ich hielt für ein Weilchen den Mund. Meine Fragen waren nicht unbedingt für die breite Öffentlichkeit bestimmt. Oh, lassen Sie sich nicht stören. Ich unterhalte mich mit meinem komatösen Großvater nur über Pillen und Zeitreisen. Ich legte mein Gesicht in die Hände und tat, als würde ich beten oder irgendwas.
Die Schwester tippte mir auf die Schulter.
»Hey. Wollen Sie seine Sachen haben?«
»Sachen?«
»Sie wissen schon. Seine Kleidung. Sie ist in einem Plastikbeutel in dem Wandschrank da drüben.«
Grandpa lag im Koma; vermutlich machte es ihm nichts aus, wenn seine Klamotten in dieser Zeit nicht
gewaschen wurden. Und ich hatte nicht vor, drei oder vier meiner letzten Dollar für die Reinigung zu verpulvern.
»Nicht jetzt. Danke.«
Sie warf mir einen Wie-Sie-wollen-Blick zu und verschwand wieder.
Nach einer Weile tat ich das ebenfalls. Es ist nicht leicht, schwierige Fragen zu stellen, wenn man weiß, dass man keine Antworten bekommt. Vergeblich hofft man auf eine Reaktion.
Vielleicht hatte Großvater aber auch jedes meiner Worte gehört und war zu dem Schluss gekommen, dass sein einziger Enkel komplett den Verstand verloren hatte.
Ich hatte keine Ahnung, was Grandpa in der Vergangenheit so getrieben hatte. Aber auf einmal war mir klargeworden, was ich wollte.
Ich wollte ein letztes Mal meinen Vater sehen.
Ich spürte das überwältigende, ursprüngliche Verlangen, meinen Vater hautnah zu erleben - nicht auf einem Foto, nicht in der Erinnerung. Ich wollte meinen Vater im wirklichen Leben sehen, durch meine erwachsenen Augen. Je älter ich wurde und je weiter der Tag seiner Ermordung zurücklag, desto weniger traute ich meiner Erinnerung. Ich hatte keine Ahnung, wie er wirklich aussah. Es war mir egal, wenn er mich nicht sehen konnte oder dass wir nicht miteinander reden konnten. Ich wollte ihn einfach anschauen.
Ein Redakteur von der City Press, mit dem ich befreundet war - ein Nachrichtenredakteur namens Tommy Piccolo - hatte mir mal erzählt, dass er seinen Vater ebenfalls verloren hat, als er noch ein Kind war. Wir hockten in der Bar auf der anderen Straßenseite und tranken eine ziemliche Menge Bier, bis wir beide schließlich wehmütig und niedergeschlagen waren. Tommys Dad starb, als er zwölf Jahre alt war, und inzwischen fing er an, seiner eigenen Erinnerung an ihn zu misstrauen.
»Ich meine, das ist dreißig Jahre her. Ich kann nicht sagen, an was ich mich wirklich erinnere und was ich mir nur ausgedacht habe. Ich weiß nicht mal, wie seine Stimme geklungen hat. Ich stelle mir vor, wie er mit mir redet, und habe Angst, dass ich mir die Stimme, mit der er spricht, nur ausgedacht habe.«
Ich sagte Tommy, dass ich genau wusste, wie er sich fühlte. Und dann bestellte ich für uns eine Runde Whiskey.
Doch jetzt hatte ich eine zweite Chance. Wer bekommt so ein Geschenk und weist es von sich?
Ich wäre sogar zufrieden gewesen, wenn das nur ein verschlungener Traum gewesen wäre, der durch halluzinogene Drogen in Pillenform hervorgerufen wurde. Es wäre immer noch besser gewesen als die Alternative. Nämlich nichts.
Also traf ich auf dem Weg vom Krankenhaus eine Entscheidung. Ich wollte ein paar kleine weiße Pillen einwerfen und zur Darrah Street des Jahres 1972 zurückreisen,
um in das Haus meiner Kindheit einzubrechen. Ich würde vielleicht ein Fenster einschmeißen oder einen Stein gegen die Tür werfen … oder warten. Ich
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