Alte König in seinem Exil - Alte König in seinem Exil
Sommers 2006, hatte ich die meisten beruflichen Verpflichtungen hinter mich gebracht. Ich baute mein Fahrrad auseinander und lud es gemeinsam mit meinem Gepäck in den Wagen der Mutter. Über München fuhr ich nach Wolfurt, wo ich nach knapp sechs Stunden mit leichten Kopfschmerzen eintraf. Das war am Tag vor dem achtzigsten Geburtstag des Vaters.
Ich schlüpfte in Arbeitskleidung, deren Geruch erkennen ließ, dass sie zu lange in einer unbewohnten Wohnung herumgelegen war, sprang zum Fenster hinaus und pflückte am Bühel unter dem Haus Walderdbeeren und Himbeeren. Ich nahm Kirschen ab und richtete mich anschließend in meinen Räumlichkeiten ein. Als ich den Vater am frühen Abend traf, sagte er:
»Ah, da kommst du also und schaust, ob ich noch lebe.«
Er war ein äußerlich immer noch ganz solider Mann. Wenn man ihn auf der Straße traf, kam man zunächst nicht auf die Idee, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Er strahlte unterschiedslos jeden Menschen an und lavierte sich mit kleinen Scherzen durch kurze Wortwechsel, sodass die Leute behaupteten, er erkenne sie immer , er sei derselbe Schelm wie eh und je. Erst wenn das Gespräch auf einen Gegenstand kam, der etwas mehr Zusammenhang und Übersicht verlangte, offenbarten sich seine Schwächen.
Jetzt saß er auf der Mauer vor dem Haus, über die er zuvor sein Stofftaschentuch gebreitet hatte, und blickte in die friedliche Straße hinein. Geduldig wartete er, dass etwas passierte. Was? Seine Ansprüche waren bescheiden. Wenn ein Auto vorbeifuhr, winkte er. Wenn eine Frau auf dem Fahrrad vorbeiradelte, sagt er:
»Guten Tag, schöne Frau.«
Alles absolut unverdächtig.
Die Glocken der nahe stehenden Dorfkirche schlugen die Stunde. Meine Mutter trat hinzu, sie sah, dass der Vater einige Grissini in der linken Hosentasche hatte, und sagte, das sei nicht sehr klug, weil er dann die Hosentaschen voller Brösel habe. Er meinte:
»Die brauche ich zum Rasieren.«
»Damit kannst du dich doch nicht rasieren, August.«
Er dachte kurz nach und sagte:
»Ich stecke sie nachher im Garten in die Erde, dann werden sie austreiben und etwas Schönes wird wachsen.«
Das war schon eher verdächtig.
Er stand auf, und nachdem er mit Ernst und Würde sein Taschentuch aufgenommen und zusammengefaltet hatte, ging er hinters Haus auf die Terrasse. Ich folgte ihm. Wir schwiegen und schauten Richtung Westen zum Bodensee, wo sich der Sonnenuntergang hinzog, als wolle der Tagnicht enden. Oben am Berg über der Gebhardskirche standen leichte Wolken, ringsum war der Himmel blau. Wir hörten das leise Rascheln der Luft in den Birkenblättern und das ferne Rauschen von der A14, der Rheintalautobahn.
Der Obstgarten hinter dem Elternhaus des Vaters, auf den wir hinunterblickten, war voll von üppigem Grün, dort standen die Obstbäume und das Bienenhaus fast unverändert seit unser beider Kindheit.
»Morgen wirst du achtzig«, sagte ich zu ihm.
»Ich?«, fragte er.
»Ja, du. Du wirst achtzig, Papa.«
»Ich bestimmt nicht«, sagte er in lachender Empörung. Er schaute mich an: »Aber du vielleicht.«
»Ich werde achtunddreißig, Papa, aber du wirst morgen achtzig.«
»Ich bestimmt nicht«, wiederholte er belustigt. »Aber du vielleicht.«
So ging es eine Weile hin und her, bis ich ihn fragte, wie es sich anfühle, achtzig zu sein. Da sagte er:
»Du, ich kann nicht behaupten, dass es etwas Besonderes wäre.«
Zwei Stunden später, nachdem ich nochmals Himbeeren abgenommen hatte, legte ich ihn schlafen und ließ dann ebenfalls die Ruder sinken, ich fiel halb ohnmächtig ins Bett, so erschöpft war ich von den Vortagen und der langen Autofahrt.
In der Früh gratulierte ich dem Vater zu seinem Jubiläum. Er nahm die Gratulation bereitwillig entgegen und bedanktesich. Als er in Unterhosen auf der Bettkante saß und ich zu ihm sagte, dass sein Vater in diesem Alter schon nicht mehr gelebt habe, schaute er mich erstaunt an und lächelte anschließend schwach. Mir war aber nicht klar, was das Lächeln bedeutete. Als ich zu ihm sagte, dass wir ihn im Pfarrheim feiern werden, wollte er zunächst wissen, in welchem Pfarrheim.
»Im Wolfurter Pfarrheim«, sagte ich.
Da meinte er:
»Ich bin immer gerne in Wolfurt gewesen und stehe mit allen, die ich hier kenne, auf gutem Fuß.«
Der Tag verlief sehr ruhig, es war ein Dienstag, die Geburtstagsfeier war auf Freitag angesetzt. Ich erinnere mich, dass die Mutter einen Obstkuchen gebacken hatte und dass eine Nachbarin ein Billett vorbeibrachte
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