Alte König in seinem Exil - Alte König in seinem Exil
Jahren bekommen hat und nicht erst mit Beginn der Krankheit.
Zu Hause war eine Betreuung auf diesem Niveau trotz intensiver Unterstützung durch die Familie nicht mehr möglich gewesen. Auch das Eingestehen einer Niederlage kann ein Erfolg sein. Es brachte nichts, wenn die anderen Familienmitglieder auf der Strecke blieben. Jahrelang hatte sich alles um den kranken Vater gedreht. Wer sich mit eigenen Problemen geplagt hatte, hatte zusehen müssen, wie er damit zurechtkam. Es war anstrengend genug gewesen, dass wir uns praktisch Tag und Nacht über den Vater Gedanken machten. Ständig die Frage: Was kommt als Nächstes? Die Grenzen der Belastbarkeit waren überschritten.
Zu allem Überfluss fühlte sich der Vater ja auch zu Hause nicht mehr daheim.
Der letzte Tag zu Hause begann für den Vater wie jeder andere der Vortage, seit er medikamentös neu eingestellt war – von seiner Unwilligkeit war nichts mehr zu spüren. Er stand auf, trocknete sich nach dem Duschen alleine ab und aß dann langsam und zufrieden sein Frühstück. Es war ein warmer, sonniger Morgen, deshalb brachte ihn meine Mutter, die nach der Kapitulation von Anna angereist war, um den Vater zu versorgen, zu seinem Gartenstuhl vor dem Haus. Von dort aus wechselte er mit vorbeigehenden Nachbarn einige Worte, während meine Mutter Namenszettel an seine Kleider nähte, sogar an die Taschentücher.
Mittags aß er Käsknöpfle, dann legte er sich im Wohnzimmer hin und war wenige Minuten später eingeschlafen. Gegen drei am Nachmittag wachte er auf, trank Tee und half dann, seine Reisetasche zum Auto zu tragen. Anschließend stieg er ein und ließ sich von meiner Mutter zum Seniorenheim fahren.
Ein ehemaliger Gemeinderat saß vor der Eingangstür, erhob sich und hielt die Türe auf, er schien zu wissen, dass die Automatik nicht funktionierte. Der Vater erkannte ihn nicht, er grüßte ihn nur.
In der Eingangshalle saß eine kleine Frau auf der Couch, der Vater sagte »Halleluja!« und hob die Hand. Er ging auf die Frau zu, nahm sie bei der Hand und gemeinsam folgten sie meiner Mutter zur Tür in den Aufenthaltsraum der Pflegestation. Dort begrüßte die Leiterin der Station den Vater und zeigte ihm sein Zimmer, auch die Bilder seiner Großeltern, die dort bereits hingen. Er meinte, er habe die Leute schon gesehen, kenne sie aber nicht. Die Leiterin hatte noch einige Fragen wegen seiner Gewohnheiten und der Medikamente. Dann ging sie mit dem Vater hinaus in den Garten, er setzte sich zu den anderen Bewohnern in den Schatten und schien sich wohl zu fühlen. Nach einiger Zeit verabschiedete sich meine Mutter, mein Vater hob die Hand und winkte.
Als ich ihn einige Tage später besuchte, saß er bei meinem Eintreffen allein an seinem Tisch und sang. Ich wartete ein wenig, dann setzte ich mich zu ihm, wir redeten und spielten Armdrücken. Er legte sich mächtig ins Zeug, sein welkesGesicht straffte sich zu einem glücklichen Grinsen, er hatte sichtlich Freude und wirkte nicht, als sei er zum Leben nur gezwungen. Seine Heiterkeit mochte durch seine gesundheitliche Lage nicht gerechtfertigt sein. Wen kümmert’s.
Ich sagte zu ihm:
»Du bist eh sehr kräftig.«
Er grinste erneut und antwortete:
»Es reicht bei mir nicht mehr, jemanden in den Schnee zu stecken, aber ich bin auch kein Pappenstieler . Das wollte ich dir zeigen, sonst hätte ich es gar nicht gemacht.«
Kurz darauf fügte er hinzu:
»Wir haben eh keine andere Wahl, als dass wir uns wehren. Wenn nicht, dann sind wir arme Hunde.«
Für den Vater ist seine Alzheimererkrankung bestimmt kein Gewinn, aber für seine Kinder und Enkel ist noch manches Lehrstück dabei. Die Aufgabe von Eltern besteht ja auch darin, den Kindern etwas beizubringen.
Das Alter als letzte Lebensetappe ist eine Kulturform, die sich ständig verändert und immer wieder neu erlernt werden muss. Und wenn es einmal so ist, dass der Vater seinen Kindern sonst nichts mehr beibringen kann, dann zumindest noch, was es heißt, alt und krank zu sein. Auch dies kann Vaterschaft und Kindschaft bedeuten, unter guten Voraussetzungen. Denn Vergeltung am Tod kann man nur zu Lebzeiten üben.
Alexandra erzählt, ihr Großvater behaupte, er werde misshandelt. Als Alexandras Mutter ihn besuchte, versuchte sie ihm diese Idee auszureden. Wenig später kam eine Krankenschwester und wollte ihm die Nasenbrille wechseln, über die er Sauerstoff erhielt. Die Krankenschwester sagte:
»Herr Berlinger, ich schiebe Ihnen jetzt diesen
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